MLWerke | 1843 | Marx/Engels

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/ Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 1. Berlin/DDR. 1976. S. 337-346.
1,5. Korrektur
Erstellt am 30.08.1999

Karl Marx

[Briefe aus den Deutsch-Französischen Jahrbüchern]


»Deutsch Französische Jahrbücher«, 1. Doppellieferung, Februar 1844.

|337| M. an R. |Marx an Ruge|

Auf der Treckschuit nach D. im März 1843
Ich reise jetzt in Holland. Soviel ich aus den hiesigen und französischen Zeitungen sehe, ist Deutschland tief in den Dreck hineingeritten und wird es noch immer mehr. Ich versichere Sie, wenn man auch nichts weniger als Nationalstolz fühlt, so fühlt man doch Nationalscham, sogar in Holland. Der kleinste Holländer ist noch ein Staatsbürger gegen den größten Deutschen. Und die Urteile der Ausländer über die preußische Regierung! Es herrscht eine erschreckende Übereinstimmung, niemand täuscht sich mehr über dies System und seine einfache Natur. Etwas hat also doch die neue Schule genützt. Der Prunkmantel des Liberalismus ist gefallen, und der widerwärtigste Despotismus steht in seiner ganzen Nacktheit vor aller Welt Augen.

Das ist auch eine Offenbarung, wenngleich eine umgekehrte. Es ist eine Wahrheit, die uns zum wenigsten die Hohlheit unsers Patriotismus, die Unnatur unseres Staatswesens kennen und unser Angesicht verhüllen lehrt. Sie sehen mich lächelnd an und fragen: Was ist damit gewonnen? Aus Scham macht man keine Revolution. Ich antworte: Die Scham ist schon eine Revolution; sie ist wirklich der Sieg der französischen Revolution über den deutschen Patriotismus, durch den sie 1813 besiegt wurde. Scham ist eine Art Zorn, der in sich gekehrte. Und wenn eine ganze Nation sich wirklich schämte, so wäre sie der Löwe, der sich zum Sprunge in sich zurückzieht. Ich gebe zu, sogar die Scham ist in Deutschland noch nicht vorhanden; im Gegenteil, diese Elenden sind noch Patrioten. Welches System sollte ihnen aber den Patriotismus austreiben, wenn nicht dieses lächerliche des neuen Ritters? Die Komödie des Despotismus, die mit uns aufgeführt wird, ist für ihn ebenso gefährlich, als es einst den Stuarts und Bourbonen die Tragödie war. Und selbst, wenn man diese Komödie lange Zeit nicht für das halten sollte, was sie ist, |338| so wäre sie doch schon eine Revolution. Der Staat ist ein zu ernstes Ding, um zu einer Harlekinade gemacht zu werden. Man könnte vielleicht ein Schiff voll Narren eine gute Weile vor dem Winde treiben lassen; aber seinem Schicksal trieb' es entgegen eben darum, weil die Narren dies nicht glaubten. Dieses Schicksal ist die Revolution, die uns bevorsteht.

M. an R.

Köln, im Mai 1843
Ihr Brief, mein teurer Freund, ist eine gute Elegie, ein atemversetzender Grabgesang; aber politisch ist er ganz und gar nicht. Kein Volk verzweifelt, und sollt' es auch lange Zeit nur aus Dummheit hoffen, so erfüllt es sich doch nach vielen Jahren einmal aus plötzlicher Klugheit alle seine frommen Wünsche.

Doch, Sie haben mich angesteckt, Ihr Thema ist noch nicht erschöpft, ich will das Finale hinzufügen, und wenn alles zu Ende ist, dann reichen Sie mir die Hand, damit wir von vorne wieder anfangen. Laßt die Toten ihre Toten begraben und beklagen. Dagegen ist es beneidenswert, die ersten zu sein, die lebendig ins neue Leben eingehen; dies soll unser Los sein.

Es ist wahr, die alte Welt gehört dem Philister. Aber wir dürfen ihn nicht wie einen Popanz behandeln, von dem man sich ängstlich wegwendet. Wir müssen ihn vielmehr genau ins Auge fassen. Es lohnt sich, diesen Herrn der Welt zu studieren.

Herr der Welt ist er freilich nur, indem er sie, wie die Würmer einen Leichnam, mit seiner Gesellschaft ausfüllt. Die Gesellschaft dieser Herren braucht darum nichts weiter als eine Anzahl Sklaven, und die Eigentümer der Sklaven brauchen nicht frei zu sein. Wenn sie wegen ihres Eigentums an Land und Leuten Herren im eminenten Sinne genannt werden, sind sie darum nicht weniger Philister als ihre Leute.

Menschen, das wären geistige Wesen, freie Männer, Republikaner. Beides wollen die Spießbürger nicht sein. Was bleibt ihnen übrig, zu sein und zu wollen?

Was sie wollen, leben und sich fortpflanzen (und weiter, sagt Goethe, bringt es doch keiner), das will auch das Tier, höchstens würde ein deutscher Politiker noch hinzuzusetzen haben, der Mensch wisse aber, daß er es wolle, und der Deutsche sei so besonnen, nichts weiter zu wollen.

Das Selbstgefühl des Menschen, die Freiheit, wäre in der Brust dieser Menschen erst wieder zu erwecken. Nur dies Gefühl, welches mit den Griechen aus der Welt und mit dem Christentum in den blauen Dunst des Himmels |339| verschwindet, kann aus der Gesellschaft wieder eine Gemeinschaft der Menschen für ihre höchsten Zwecke, einen demokratischen Staat machen.

Die Menschen dagegen, welche sich nicht als Menschen fühlen, wachsen ihren Herren zu, wie eine Zucht von Sklaven oder Pferden. Die angestammten Herren sind der Zweck dieser ganzen Gesellschaft. Diese Welt gehört ihnen. Sie nehmen sie, wie sie ist und sich fühlt. Sie nehmen sich selbst, wie sie sich vorfinden, und stellen sich hin, wo ihre Füße gewachsen sind, auf die Nacken dieser politischen Tiere, die keine andere Bestimmung kennen, als ihnen »untertan, hold und gewärtig« zu sein.

Die Philisterwelt ist die politische Tierwelt, und wenn wir ihre Existenz anerkennen müssen, so bleibt uns nichts übrig, als dem status quo einfacherweise recht zu geben. Barbarische Jahrhunderte haben ihn erzeugt und ausgebildet, und nun steht er da als ein konsequentes System, dessen Prinzip die entmenschte Welt ist. Die vollkommenste Philisterwelt, unser Deutschland, mußte also natürlich weit hinter der französischen Revolution, die den Menschen wieder herstellte, zurückbleiben; und der deutsche Aristoteles, der seine Politik aus unsern Zuständen abnehmen wollte, würde an ihre Spitze schreiben: »Der Mensch ist ein geselliges, jedoch völlig unpolitisches Tier«, den Staat aber könnte er nicht richtiger erklären, als dies Herr Zöpfl, der Verfasser des »Konstitutionellen Staatsrechts in Deutschland«, bereits getan hat. Er ist nach ihm ein »Verein von Familien«, welcher, fahren wir fort, einer allerhöchsten Familie, die man Dynastie nennt, erb- und eigentümlich zugehört. Je fruchtbarer die Familien sich zeigen, desto glücklicher die Leute, desto größer der Staat, desto mächtiger die Dynastie, weswegen denn auch in dem normaldespotischen Preußen auf den siebenten Jungen eine Prämie von fünfzig Reichstalern gesetzt ist.

Die Deutschen sind so besonnene Realisten, daß alle ihre Wünsche und ihre hochfliegendsten Gedanken nicht über das kahle Leben hinausreichen. Und diese Wirklichkeit, nichts weiter, akzeptieren die, welche sie beherrschen. Auch diese Leute sind Realisten, sie sind sehr weit von allem Denken und von aller menschlichen Größe entfernt, gewöhnliche Offiziere und Landjunker, aber sie irren sich nicht, sie haben recht, sie, so wie sie sind, reichen vollkommen aus, dieses Tierreich zu benutzen und zu beherrschen, denn Herrschaft und Benutzung ist ein Begriff, hier wie überall. Und wenn sie sich huldigen lassen und über die wimmelnden Köpfe dieser hirnlosen Wesen hinsehen, was liegt ihnen näher als der Gedanke Napoleons an der Beresina? Man sagt ihm nach, er habe hinuntergewiesen auf das Gewimmel der Ertrinkenden und seinem Begleiter zugerufen: Voyez ces crapauds |Sehen Sie sich diese Kröten an|! Diese |340| Nachrede ist wahrscheinlich eine Lüge, aber wahr ist sie nichtsdestoweniger. Der einzige Gedanke des Despotismus ist die Menschenverachtung, der entmenschte Mensch, und dieser Gedanke hat vor vielen andern den Vorzug, zugleich Tatsache zu sein. Der Despot sieht die Menschen immer entwürdigt. Sie ersaufen vor seinen Augen und für ihn im Schlamm des gemeinen Lebens, aus dem sie auch, gleich den Fröschen, immer wieder hervorgehen. Drängt sich nun selbst Menschen, die großer Zwecke fähig waren, wie Napoleon vor seiner Dynastietollheit, diese Ansicht auf, wie sollte ein ganz gewöhnlicher König in einer solchen Realität Idealist sein?

Das Prinzip der Monarchie überhaupt ist der verachtete, der verächtliche, der entmenschte Mensch; und Montesquieu hat sehr unrecht, die Ehre dafür auszugeben. Er hilft sich mit der Unterscheidung von Monarchie, Despotie und Tyrannei. Aber das sind Namen eines Begriffs, höchstens eine Sittenverschiedenheit bei demselben Prinzip. Wo das monarchische Prinzip in der Majorität ist, da sind die Menschen in der Minorität, wo es nicht bezweifelt wird, da gibt es keine Menschen. Warum soll nun ein Mann wie der König von Preußen, der keine Proben davon hat, daß er problematisch wäre, nicht lediglich seiner Laune folgen? Und nun er es tut, was kommt dabei heraus? Widersprechende Absichten? Gut, so wird nichts daraus. Ohnmächtige Tendenzen? Sie sind immer noch die einzige politische Wirklichkeit. Blamagen und Verlegenheiten? Es gibt nur eine Blamage und nur eine Verlegenheit, das Heruntersteigen vom Thron. Solange die Laune an ihrem Platze bleibt, hat sie recht. Sie mag dort so unbeständig, so kopflos, so verächtlich sein, wie sie will; sie ist immer noch gut genug, ein Volk zu regieren, welches nie ein anderes Gesetz gekannt hat als die Willkür seiner Könige. Ich sage nicht, ein kopfloses System und der Verlust der Achtung im Innern und nach außen werde ohne Folgen bleiben, ich nehme die Assekuranz des Narrenschiffes nicht auf mich; aber ich behaupte: der König von Preußen wird so lange ein Mann seiner Zeit sein, als die verkehrte Welt die wirkliche ist.

Sie wissen, ich beschäftige mich viel mit diesem Manne. Schon damals, als er nur noch das »Berliner politische Wochenblatt« zu seinem Organe hatte, erkannte ich seinen Wert und seine Bestimmung. Er rechtfertigte schon bei der Huldigung in Königsberg meine Vermutung, daß nun die Frage rein persönlich werden würde. Er erklärte sein Herz und sein Gemüt für das künftige Staatsgrundgesetz der Domäne Preußen, seines Staates, und in der Tat, der König ist in Preußen das System. Er ist die einzige politische Person. Seine Persönlichkeit bestimmt das System so oder so. Was er tut oder was man ihn tun läßt, was er denkt oder was man ihm in den Mund legt, das ist es, |341| was in Preußen der Staat denkt oder tut. Es ist also wirklich ein Verdienst, daß der jetzige König dies so unumwunden erklärt hat.

Nur darin irrte man sich eine Zeitlang, daß man es für erheblich hielt, welche Wünsche und Gedanken der König nun zum Vorschein brächte. Dies konnte in der Sache nichts ändern, der Philister ist das Material der Monarchie und der Monarch immer nur der König der Philister; er kann weder sich noch seine Leute zu freien, wirklichen Menschen machen, wenn beide Teile bleiben, was sie sind.

Der König von Preußen hat es versucht, mit einer Theorie, die wirklich sein Vater so nicht hatte, das System zu ändern. Das Schicksal dieses Versuches ist bekannt. Er ist vollkommen gescheitert. Ganz natürlich. Ist man einmal bei der politischen Tierwelt angelangt, so gibt es keine weitere Reaktion als bis zu ihr, und kein anderes Vordringen als das Verlassen ihrer Basis und den Übergang zur Menschenwelt der Demokratie.

Der alte König wollte nichts Extravagantes, er war ein Philister und machte keinen Anspruch auf Geist. Er wußte, daß der Dienerstaat und sein Besitz nur der prosaischen, ruhigen Existenz bedurfte. Der junge König war munterer und aufgeweckter, von der Allmacht des Monarchen, der nur durch sein Herz und seinen Verstand beschränkt ist, dachte er viel größer. Der alte verknöcherte Diener- und Sklavenstaat widerte ihn an. Er wollte ihn lebendig machen und ganz und gar mit seinen Wünschen, Gefühlen und Gedanken durchdringen; und er konnte das verlangen, er in seinem Staate, wenn es nur gelingen wollte. Daher seine liberalen Reden und Herzensergießungen. Nicht das tote Gesetz, das volle lebendige Herz des Königs sollte alle seine Untertanen regieren. Er wollte alle Herzen und Geister für seine Herzenswünsche und langgenährten Pläne in Bewegung setzen. Eine Bewegung ist erfolgt; aber die übrigen Herzen schlugen nicht wie das seinige, und die Beherrschten konnten den Mund nicht auftun, ohne von der Aufhebung der alten Herrschaft zu reden. Die Idealisten, welche die Unverschämtheit haben, den Menschen zum Menschen machen zu wollen, ergriffen das Wort, und während der König altdeutsch phantasierte, meinten sie, neudeutsch philosophieren zu dürfen. Allerdings war dies unerhört in Preußen. Einen Augenblick schien die alte Ordnung der Dinge auf den Kopf gestellt zu sein, ja, die Dinge fingen an, sich in Menschen zu verwandeln, es gab sogar namhafte Menschen, obgleich die Namensnennung auf den Landtagen nicht erlaubt ist; aber die Diener des alten Despotismus machten diesem undeutschen Treiben bald ein Ende. Es war nicht schwer, die Wünsche des Königs, der für eine große |342| Vergangenheit voll Pfaffen, Ritter und Hörige schwärmt, mit den Absichten der Idealisten, welche lediglich die Folgen der französischen Revolution, also zuletzt doch immer Republik und eine Ordnung der freien Menschheit statt der Ordnung der toten Dinge wollen, in fühlbaren Konflikt zu bringen. Als dieser Konflikt schneidend und unbequem genug geworden und der jähzornige König hinlänglich aufgeregt war, da traten die Diener zu ihm, die früher den Gang der Dinge so leicht geleitet hatten, und erklärten: der König täte nicht wohl, seine Untertanen zu unnützen Reden zu verleiten, sie würden das Geschlecht der redenden Menschen nicht regieren können. Auch der Herr aller Hinterrussen war über die Bewegung in den Köpfen der Vorderrussen |Marx nennt die Preußen (lateinisch Borussen) ironisch »Vorderrussen« und Nikolaus I. den Herrn aller Hinterrussen| unruhig geworden und verlangte Wiederherstellung des alten ruhigen Zustandes. Und es erfolgte eine neue Auflage der alten Ächtung aller Wünsche und Gedanken der Menschen über menschliche Rechte und Pflichten, das heißt die Rückkehr zu dem alten verknöcherten Dienerstaat, in welchem der Sklave schweigend dient und der Besitzer des Landes und der Leute lediglich durch eine wohlgezogene, stillfolgsame Dienerschaft möglichst schweigsam herrscht. Beide können, was sie wollen, nicht sagen, weder die einen, daß sie Menschen werden wollen, noch der andere, daß er keine Menschen in seinem Lande brauchen könne. Schweigen ist daher das einzige Auskunftsmittel. Muta pecora, prona et ventri oboedientia |Die Herde ist stumm, kopfhängerisch und gehorcht dem Magen|.

Dies ist der verunglückte Versuch, den Philisterstaat auf seiner eigenen Basis aufzuheben; er ist dazu ausgeschlagen, daß er die Notwendigkeit der Brutalität und die Unmöglichkeit der Humanität für den Despotismus aller Welt anschaulich gemacht hat. Ein brutales Verhältnis kann nur mit Brutalität aufrechterhalten werden. Und hier bin ich nun mit unserer gemeinsamen Aufgabe, den Philister und seinen Staat ins Auge zu fassen, fertig. Sie werden nicht sagen, ich hielte die Gegenwart zu hoch, und wenn ich dennoch nicht an ihr verzweifle, so ist es nur ihre eigene verzweifelte Lage, die mich mit Hoffnung erfüllt. Ich rede gar nicht von der Unfähigkeit der Herren und von der Indolenz der Diener und Untertanen, die alles gehn lassen, wie es Gott gefällt; und doch reichte beides zusammen schon hin, um eine Katastrophe herbeizuführen. Ich mache Sie nur darauf aufmerksam, daß die Feinde des Philistertums, mit einem Wort alle denkenden und alle leidenden Menschen zu einer Verständigung gelangt sind, wozu ihnen früher durchaus die Mittel fehlten, und daß selbst das passive Fortpflanzungssystem der alten Untertanen jeden Tag Rekruten für den Dienst der neuen Menschheit wirbt. Das |343| System des Erwerbs und Handels, des Besitzes und der Ausbeutung der Menschen führt aber noch viel schneller als die Vermehrung der Bevölkerung zu einem Bruch innerhalb der jetzigen Gesellschaft, den das alte System nicht zu heilen vermag, weil es überhaupt nicht heilt und schafft, sondern nur existiert und genießt. Die Existenz der leidenden Menschheit, die denkt, und der denkenden Menschheit, die unterdrückt wird, muß aber notwendig für die passive und gedankenlos genießende Tierwelt der Philisterei ungenießbar und unverdaulich werden.

Von unserer Seite muß die alte Welt vollkommen ans Tageslicht gezogen und die neue positiv ausgebildet werden. Je länger die Ereignisse der denkenden Menschheit Zeit lassen, sich zu besinnen, und der leidenden, sich zu sammeln, um so vollendeter wird das Produkt in die Welt treten, welches die Gegenwart in ihrem Schoße trägt.

M. an R.

Kreuznach, im September 1843
Es freut mich, daß Sie entschlossen sind und von den Rückblicken auf das Vergangene Ihre Gedanken zu einem neuen Unternehmen vorwärts wenden. Also in Paris, der alten Hochschule der Philosophie, absit omen |möge es nichts Schlimmes bedeuten|! und der neuen Hauptstadt der neuen Welt. Was notwendig ist, das fügt sich. Ich zweifle daher nicht, daß sich alle Hindernisse, deren Gewicht ich nicht verkenne, beseitigen lassen.

Das Unternehmen mag aber zustande kommen oder nicht; jedenfalls werde ich Ende dieses Monats in Paris sein, da die hiesige Luft leibeigen macht und ich in Deutschland durchaus keinen Spielraum für eine freie Tätigkeit sehe.

In Deutschland wird alles gewaltsam unterdrückt, eine wahre Anarchie des Geistes, das Regiment der Dummheit selbst ist hereingebrochen, und Zürich gehorcht den Befehlen aus Berlin; es wird daher immer klarer, daß ein neuer Sammelpunkt für die wirklich denkenden und unabhängigen Köpfe gesucht werden muß. Ich bin überzeugt, durch unsern Plan würde einem wirklichen Bedürfnisse entsprochen werden, und die wirklichen Bedürfnisse müssen sich doch auch wirklich erfüllen lassen. Ich zweifle also nicht an dem Unternehmen, sobald ernst damit gemacht wird.

Größer noch als die äußern Hindernisse scheinen beinahe die inneren Schwierigkeiten zu sein. Denn wenn auch kein Zweifel über das »Woher«, so |344| herrscht desto mehr Konfusion über das »Wohin«. Nicht nur, daß eine allgemeine Anarchie unter den Reformern ausgebrochen ist, so wird jeder sich selbst gestehen müssen, daß er keine exakte Anschauung von dem hat, was werden soll. Indessen ist das gerade wieder der Vorzug der neuen Richtung, daß wir nicht dogmatisch die Welt antizipieren, sondern erst aus der Kritik der alten Welt die neue finden wollen. Bisher hatten die Philosophen die Auflösung aller Rätsel in ihrem Pulte liegen, und die dumme exoterische Welt hatte nur das Maul aufzusperren, damit ihr die gebratenen Tauben der absoluten Wissenschaft in den Mund flogen. Die Philosophie hat sich verweltlicht, und der schlagendste Beweis dafür ist, daß das philosophische Bewußtsein selbst in die Qual des Kampfes nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich hineingezogen ist. Ist die Konstruktion der Zukunft und das Fertigwerden für alle Zeiten nicht unsere Sache, so ist desto gewisser, was wir gegenwärtig zu vollbringen haben, ich meine die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden, rücksichtslos sowohl in dem Sinne, daß die Kritik sich nicht vor ihren Resultaten fürchtet und ebensowenig vor dem Konflikte mit den vorhandenen Mächten.

Ich bin daher nicht dafür, daß wir eine dogmatische Fahne aufpflanzen, im Gegenteil. Wir müssen den Dogmatikern nachzuhelfen suchen, daß sie ihre Sätze sich klarmachen. So ist namentlich der Kommunismus eine dogmatische Abstraktion, wobei ich aber nicht irgendeinen eingebildeten und möglichen, sondern den wirklich existierenden Kommunismus, wie ihn Cabet, Dézamy, Weitling etc. lehren, im Sinn habe. Dieser Kommunismus ist selbst nur eine aparte, von seinem Gegensatz, dem Privatwesen, infizierte Erscheinung des humanistischen Prinzips. Aufhebung des Privateigentums und Kommunismus sind daher keineswegs identisch, und der Kommunismus hat andre sozialistische Lehren, wie die von Fourier, Proudhon etc., nicht zufällig, sondern notwendig sich gegenüber entstehn sehn, weil er selbst nur eine besondre, einseitige Verwirklichung des sozialistischen Prinzips ist.

Und das ganze sozialistische Prinzip ist wieder nur die eine Seite, welche die Realität des wahren menschlichen Wesens betrifft. Wir haben uns ebensowohl um die andre Seite, um die theoretische Existenz des Menschen zu kümmern, also Religion, Wissenschaft etc. zum Gegenstande unserer Kritik zu machen. Außerdem wollen wir auf unsere Zeitgenossen wirken und zwar auf unsre deutschen Zeitgenossen. Es fragt sich, wie ist das anzustellen? Zweierlei Fakta lassen sich nicht ableugnen. Einmal die Religion, dann die Politik sind Gegenstände, welche das Hauptinteresse des jetzigen Deutschlands bilden. An diese, wie sie auch sind, ist anzuknüpfen, nicht irgendein System wie etwa die »Voyage en Icarie« ihnen fertig entgegenzusetzen.

|345| Die Vernunft hat immer existiert, nur nicht immer in der vernünftigen Form. Der Kritiker kann also an jede Form des theoretischen und praktischen Bewußtseins anknüpfen und aus den eigenen Formen der existierenden Wirklichkeit die wahre Wirklichkeit als ihr Sollen und ihren Endzweck entwickeln. Was nun das wirkliche Leben betrifft, so enthält grade der politische Staat, auch wo er von den sozialistischen Forderungen noch nicht bewußterweise erfüllt ist, in allen seinen modernen Formen die Forderungen der Vernunft. Und er bleibt dabei nicht stehn. Er unterstellt überall die Vernunft als realisiert. Er gerät aber ebenso überall in den Widerspruch seiner ideellen Bestimmung mit seinen realen Voraussetzungen.

Aus diesem Konflikt des politischen Staates mit sich selbst läßt sich daher überall die soziale Wahrheit entwickeln. Wie die Religion das Inhaltsverzeichnis von den theoretischen Kämpfen der Menschheit, so ist es der politische Staat von ihren praktischen. Der politische Staat drückt also innerhalb seiner Form sub specie rei publicae |als einer besondern Staatsform| alle sozialen Kämpfe, Bedürfnisse, Wahrheiten aus. Es ist also durchaus nicht unter der hauteur des principes |Niveau der Prinzipien|, die speziellste politische Frage - etwa den Unterschied von ständischem und repräsentativem System - zum Gegenstand der Kritik zu machen. Denn diese Frage drückt nur auf politische Weise den Unterschied von der Herrschaft des Menschen und der Herrschaft des Privateigentums aus. Der Kritiker kann also nicht nur, er muß in diese politischen Fragen (die nach der Ansicht der krassen Sozialisten unter aller Würde sind) eingehn. Indem er den Vorzug des repräsentativen Systems vor dem ständischen entwickelt, interessiert er praktisch eine große Partei. Indem er das repräsentative System aus seiner politischen Form zu der allgemeinen Form erhebt und die wahre Bedeutung, die ihm zugrunde liegt, geltend macht, zwingt er zugleich diese Partei, über sich selbst hinauszugehn, denn ihr Sieg ist zugleich ihr Verlust.

Es hindert uns also nichts, unsre Kritik an die Kritik der Politik, an die Parteinahme in der Politik, also an wirkliche Kämpfe anzuknüpfen und mit ihnen zu identifizieren. Wir treten dann nicht der Welt doktrinär mit einem neuen Prinzip entgegen: Hier ist die Wahrheit, hier kniee nieder! Wir entwickeln der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien. Wir sagen ihr nicht: Laß ab von deinen Kämpfen, sie sind dummes Zeug; wir wollen dir die wahre Parole des Kampfes zuschrein. Wir zeigen ihr nur, warum sie eigentlich kämpft, und das Bewußtsein ist eine Sache, die sie sich aneignen muß, wenn sie auch nicht will.

|346| Die Reform des Bewußtseins besteht nur darin, daß man die Welt ihr Bewußtsein innewerden läßt, daß man sie aus dem Traum über sich selbst aufweckt, daß man ihre eignen Aktionen ihr erklärt. Unser ganzer Zweck kann in nichts anderem bestehn, wie dies auch bei Feuerbachs Kritik der Religion der Fall ist, als daß die religiösen und politischen Fragen in die selbstbewußte menschliche Form gebracht werden.

Unser Wahlspruch muß also sein: Reform des Bewußtseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewußtseins, trete es nun religiös oder politisch auf. Es wird sich dann zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen. Es wird sich zeigen, daß es sich nicht um einen großen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft handelt, sondern um die Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit. Es wird sich endlich zeigen, daß die Menschheit keine neue Arbeit beginnt, sondern mit Bewußtsein ihre alte Arbeit zustande bringt.

Wir können also die Tendenz unsers Blattes in ein Wort fassen: Selbstverständigung (kritische Philosophie) der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche. Dies ist eine Arbeit für die Welt und für uns. Sie kann nur das Werk vereinter Kräfte sein. Es handelt sich um eine Beichte, um weiter nichts. Um sich ihre Sünden vergeben zu lassen, braucht die Menschheit sie nur für das zu erklären, was sie sind.


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