Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 5. Berlin/DDR. 1975. "Einführung in die Nationalökonomie", S. 768/769.
1. Korrektur
Erstellt am 06.01.1999.
IV. 7
|768| Wir haben in unserer Betrachtung des Lohngesetzes mit dem Kauf und Verkauf der Ware Arbeitskraft angefangen. Dazu gehören aber bereits ein Lohnproletarier ohne Produktionsmittel und ein Kapitalist, der solche besitzt, und zwar in einem genügend großen Umfang besitzt, um eine moderne Unternehmung zu gründen. Woher sind sie auf den Warenmarkt gekommen? Bei der früheren Darstellung hatten wir nur die Warenproduzenten im Auge, das heißt lauter Leute mit eigenen Produktionsmitteln, die selbst Waren produzierten und sie austauschten, Wie kann bei dem Austausch gleicher Warenwerte auf der einen Seite Kapital und auf der anderen völlige Mittellosigkeit entstehen? Wir haben jetzt gesehen: Der Kauf der Ware Arbeitskraft auch zu ihrem vollen Wert führt bei Gebrauch dieser Ware zur Bildung von unbezahlter Arbeit oder Mehrwert, das heißt von Kapital. Gewiß, die Bildung von Kapital und von Ungleichheit wird klar, wenn wir die Lohnarbeit und ihre Wirkungen betrachten. Aber dazu müssen schon vorher Kapital und Proletarier da sein! Die Frage lautet also: Woher und wie sind die ersten Proletarier und die ersten Kapitalisten entstanden, wie ist der erste Sprung von der einfachen Warenproduktion zur kapitalistischen Produktion gemacht worden? Mit |769| anderen Worten lautet die Frage: Wie hat sich der Übergang von dem kleinen mittelalterlichen Handwerk zu dem modernen Kapitalismus vollzogen?
Über die Entstehung des ersten modernen Proletariats gibt uns Antwort die Geschichte der Auflösung des Feudalismus. Damit der Arbeitende als Lohnarbeiter auf dem Markt erscheinen konnte, mußte er persönliche Freiheit erlangt haben. Die erste Bedingung war also die Befreiung von Leibeigenschaft und vom Zunftzwang. Er mußte aber auch aller Produktionsmittel verlustig gegangen sein. Dies wurde bewerkstelligt durch das massenhafte "Bauernlegen", wodurch der grundbesitzende Adel bei Anbruch der Neuzeit seine jetzigen Güter bildete. Die Bauern wurden zu Tausenden einfach vom Grund und Boden, der ihnen seit Jahrhunderten gehörte, verjagt, und die bäuerlichen Gemeindegrundstücke wurden zu den herrschaftlichen geschlagen. Der englische Adel zum Beispiel tat dies, als sich durch Erweiterung des Handels im Mittelalter und das Aufblühen der flandrischen Wollmanufaktur die Aufzucht von Schafen für die Wollindustrie als lohnendes Geschäft darstellte. Um den Acker in Schafweideplätze zu verwandeln, jagte man einfach die Bauern von Haus und Hof fort. Dieses "Bauernlegen" dauerte in England vom 15. bis ins 19. Jahrhundert, So wurden zum Beispiel noch in den Jahren 1814-1820 auf den Gütern der Gräfin von Sutherland nicht weniger als 15.000 Einwohner fortgetrieben, ihre Dörfer niedergebrannt und ihre Felder in Weide verwandelt, worauf an Stelle von Bauern 131.000 Hammel gehalten wurden. Was in Deutschland, namentlich vom preußischen Adel, an dieser gewaltsamen Fabrikation von "freien" Proletariern aus vogelfreien Bauern geleistet wurde, darüber gibt die Broschüre "Die schlesische Milliarde" von Wolff [1] einen Begriff. Die existenzlos gemachten vogelfreien Bauern hatten nichts anderes übrig als die Freiheit, entweder zu verhungern oder frei, wie sie waren, sich für einen Hungerlohn zu verkaufen.[2]
Redaktionelle Anmerkungen
[1] Wilhelm Wolff: Die schlesische Milliarde, Hottingen-Zürich 1886.
[2] Am Schluß dieses Kapitels stehen im Manuskript mit Bleistift geschrieben die Worte: Reformation!, Bl. 293 ff. Bildung des psychol. Typus des modernen Lohneklavwn aus dem verfolgten Bettler. BL 350.