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Gedruckt nachzulesen in: Wladimir Iljitsch Lenin - Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 22, 3. Auflage, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1960, Berlin/DDR. S. 131-137.

1. Korrektur.
Erstellt am 20.02.1999.

Wladimir Iljitsch Lenin

Haben das OK und die Fraktion Tschcheïdse eine eigene Linie?


["Sozial-Demokrat" Nr. 50, 18. Februar 1916]

|131| In ihrem Sammelband. und noch deutlicher in ihrem Bericht an die Internationale Sozialistische Kommission (Nr. 2 des Bulletins, das am 27. XI. 1915 in deutscher Sprache erschienen ist) versuchen die OK-Leute, den Lesern weiszumachen, daß die Fraktion Tschcheïdse und das OK eine eigene Linie verfolgen, die durchaus internationalistisch sei und sich von der des "Nasche Delo" unterscheide. Diese Versicherungen sind krasseste Unwahrheit. Erstens haben wir seit der Bildung des OK (August 1912) viele Jahre hindurch eine völlige politische Solidarität in allen wesentlichen Fragen und die engste politische Zusammenarbeit der Fraktion Tschcheïdse und des OK mit der Gruppe "Nascha Sarja" gesehen, wobei nur diese Gruppe eine systematische Arbeit in den Massen leistete (Tageszeitungen der Liquidatoren). Irgendwie wesentliche Differenzen unter so nahen "Freunden" müßten nicht mit Worten, sondern mit Taten bewiesen werden. Keine einzige solche Tatsache liegt vor. Zweitens spielten die Fraktion Tschcheïdse und das OK im Verlauf einer Reihe von Jahren, 1912-1914, die Rolle von Marionetten der "Nascha Sarja", sie verteidigten systematisch deren Politik, was ja den Arbeitern Petrograds und anderer Orte wohlbekannt ist, wobei sie kein einziges Mal irgendwelchen Einfluß auf eine Änderung der Politik der "Nascha Sarja", des "Lutsch" usw. ausübten.

In der Politik, die die Massen betrifft - beispielsweise im Kampf gegen das "Steikfieber", bei den Wahlen der Führer der größten Gewerkschaften (Metallarbeiter u.a.) und der Leiter der wichtigsten Versicherungseinrichtungen (Gesamtrussischer Versicherungsrat) - trat die Gruppe "Nascha Sarja" und nur sie allein selbständig auf, das OK und |132| die Fraktion Tschcheïdse leisteten ihr lediglich Beistand, dienten ihr auf Treu und Glauben. Drittens gibt es in den anderthalb Jahren des Krieges keine einzige Tatsache, die von einer Änderung dieses in Jahren herausgebildeten Verhältnisses der Fraktion Tschcheïdse und des OK zur "Nascha Sarja" zeugen würde. Umgekehrt, es gibt gegenteilige Tatsachen, darunter sogar solche, die zu allgemeiner Kenntnis gebracht werden können (die meisten Tatsachen dieser Art können nicht veröffentlicht werden). Tatsache ist, daß sowohl das OK als auch die Fraktion Tschcheïdse in Rußland kein einziges Mal gegen die Politik des " Nasche Delo" aufgetreten sind. Um aber eine tatsächliche Änderung dieser Politik zu erreichen, bedarf es nicht eines einmaligen Auftretens, sondern eines langwierigen und siegreichen Kampfes, denn das "Nasche Delo" ist eine politische Größe, die von ihren Beziehungen zu den Liberalen genährt wird, während das OK und die Fraktion Tschcheïdse nur politische Dekorationen sind. Tatsache ist daß die Zeitungen "Utro" und "Rabotscheje Utro", die voll und ganz die Politik des "Nasche Delo" verfolgen, sogar äußerlich ihre politische Verwandtschaft mit der Fraktion Tschcheïdse unterstreichen und im Namen des gesamten Augustblocks sprechen. Tatsache ist, daß die Fraktion Tschcheïdse Geldsammlungen für das "Rabotscheje Utro" veranstaltet. Tatsache ist, daß die ganze Fraktion Tschcheïdse an der in Samara herausgegebenen sozialchauvinistischen Zeitung "Nasch Golos" [Unsere Stimme] (siehe Nr. 17) mitzuarbeiten begonnen hat. Tatsache ist, daß eines der namhaftesten Mitglieder der Fraktion Tschcheïdse, nämlich Tschchenkeli, in der Presse, in der Zeitschrift der "Vaterlandsverteidiger" oder Sozialchauvinisten, dem "Sowremenny Mir", der Zeitschrift der Herren Plechanow und Alexinski, mit grundsätzlichen Erklärungen ganz im Geiste Plechanows, des " Nasche Deb", Kautskys und Axelrods aufgetreten ist. Wir haben diese Erklärung Tschchenkelis schon vor langem zitiert, und weder die OK-Leute in ihrem Sammelband noch Trotzki in seinem "Nasche Slowo" haben diese Erklärung zu verteidigen gewagt, obwohl sie es sich angelegen sein lassen, die Fraktion Tschcheïdse zu verteidigen und anzupreisen. Viertens werden unsere Feststellungen durch direkte politische Aussagen im Namen der gesamten Fraktion Tschcheïdse und des gesamten OK bewiesen. Nehmen wir die wichtigsten Äußerungen, die im Sammelband des OK nachgedruckt sind: die Erklärung von Tschcheïdse und Co. und den Aufruf des OK. Der |133| Standpunkt dieser beiden Dokumente ist der gleiche, die Stellung ein und dieselbe. Da das OK die höchste führende Instanz des "Augustblocks" gegen unsere Partei ist und da das OK einen illegalen Aufruf herausgegeben hat, d.h. freier und offener sprechen konnte als Tschcheïdse in der Duma, wollen wir gerade diesen Aufruf näher betrachten.

Es ist übrigens interessant. daß es in der deutschsprachigen sozialdemokratischen Presse, in der Berner sozialdemokratischen Zeitung, über diesen Aufruf bereits einen Streit gegeben hat. Ihr Mitarbeiter bezeichnete ihn als "patriotisch". Das Auslandssekretariat des OK war darüber empört und veröffentlichte eine Entgegnung. in der es erklärte, daß auch "wir, das auswärtige Sekretariat, ... desselben Patriotismus schuldig" sind; es rief die Redaktion der Zeitung gewissermaßen als Schiedsrichter an und stellte ihr die vollständige deutsche Übersetzung des Aufrufs zur Verfügung. Wir bemerken unserseits, daß diese Redaktion für das OK stark voreingenommen ist und sein Lob singt. Was hat nun diese für das OK voreingenommene Redaktion erklärt?

"Wir haben inzwischen in Rede stehenden Aufruf auch gelesen", schrieb die Redaktion (Nr. 250), "und müssen gestehen, daß sein Wortlaut allerdings Mißverständnisse hervorrufen und dem Ganzen einen Sinn geben kann, der vielleicht den Urhebern des Aufrufes fremd ist."

Warum haben die OK-Leute in ihrem Sammelband dieses Urteil der Redaktion, die sie selber als Schiedsrichter angerufen haben, nicht veröffentlicht? Weil das ein Urteil von Freunden des OK ist, die sich öffentlich weigerten, das OK zu verteidigen! Die Anmerkung ist mit ausgesuchter, diplomatischer Höflichkeit geschrieben, was besonders den Wunsch der Redaktion unterstreicht, Axelrod und Martow etwas "Angenehmeres" zu sagen. Und es zeigte sich, daß nichts "Angenehmeres" zu sagen war als: vielleicht (nur vielleicht) hat das OK nicht das gesagt, was es sagen wollte; aber das, was es gesagt hat, "kann allerdings Mißverständnisse hervorrufen"!!

Wir empfehlen unseren Lesern dringend, sich mit dem Aufruf des OK bekannt zu machen, der auch im "Listok Bunda" (Nr. 9) abgedruckt ist. Jedem, der ihn aufmerksam liest, werden die einfachen und klaren Tatsachen auffallen: 1. der Aufruf enthält kein einziges Wort, das jede |134| Landesverteidigung in diesem Krieg prinzipiell ablehnt; 2. der Aufruf enthält absolut nichts, was für die "Vaterlandsverteidiger" oder "Sozialchauvinisten" grundsätzlich unannehmbar wäre; 3. eine ganze Reihe von Sätzen in dem Aufruf deckt sich genau mit der These von der "Vaterlandsverteidigung"; "das Proletariat kann der herannahenden Vernichtung nicht gleichgültig gegenüberstehen" (fast buchstäblich dasselbe steht in Nr. 2 des "Rabotscheje Utro"; "das nicht gleichgültige Verhalten" zur "Rettung des Landes vor der Vernichtung"); "das Proletariat hat ein Lebensinteresse an der Selbsterhaltung des Landes"; eine "Volksrevolution" muß das Land "vor der Vernichtung von außen" retten usw. Wer dem Sozialchauvinismus wirklich feindlich gegenübersteht, müßte anstatt solcher Phrasen sagen: Die Gutsbesitzer, der Zar und die Bourgeoisie lügen, wenn sie die Aufrechterhaltung der Unterdrückung Polens durch die Großrussen, dessen gewaltsames Festhalten als Selbsterhaltung des Landes bezeichnen: sie lügen, wenn sie mit Phrasen über die Rettung des "Landes" vor der Vernichtung die Bestrebungen bemänteln, die Großmachtprivilegien zu "retten", und das Proletariat von den Aufgaben des Kampfes gegen die internationale Bourgeoisie ablenken. Gleichzeitig die internationale Solidarität des Proletariats der kriegführenden Länder im imperialistischen Raubkrieg und die Zulässigkeit von Phrasen über die "Rettung vor der Vernichtung" eines dieser Länder anerkennen heißt heucheln, heißt alle seine Erklärungen zu hohlen, verlogenen Deklamationen machen. Denn das heißt die Taktik des Proletariats in Abhängigkeit bringen von der militärischen Lage des betreffenden Landes zum betreffenden Zeitpunkt, wenn dem aber so ist, dann haben auch die deutschen Sozialchauvinisten recht, die helfen, Osterreich oder die Türkei "vor der Vernichtung zu retten".

Das Auslandssekretariat des OK hat in der deutschsprachigen sozialdemokratischen Presse (in der Berner Zeitung) noch einen Sophismus vorgebracht, der so schamlos, so plump, so sehr "darauf zugestutzt" ist, speziell die Deutschen einzufangen, daß die OK-Leute wohlweislich darauf verzichtet haben, diesen Sophismus vor dem russischen Leserpublikum zu wiederholen.

"Wenn es Patriotismus heißen soll", ergehen sie sich vor den Deutschen im Ton edler Entrüstung, "das Proletariat auf die Revolution als einziges Mittel, das Land vor dem Ruin zu retten, hinzuweisen", so sind |135| auch wir solche Patrioten. "Wir wünschen der Internationale, möglichst viel solcher 'Patrioten' in jeder sozialistischen Partei zu besitzen, und drücken die Zuversicht aus, daß Liebknecht, Rosa Luxemburg, Merrheim sehr zufrieden sein würden, wenn sie eine genügende Zahl solcher 'Patrioten', die sich an die französischen und deutschen Arbeiter mit solchen Aufrufen wandten, um sich sehen würden."

Der Falschspielertrick ist klar: die fünf Sekretäre wissen sehr wohl, daß in Frankreich und in Deutschland, den Ländern, die der sozialistischen Revolution entgegengehen, nicht die Spur eines bürgerlichen revolutionären Geistes, nicht die Spur einer bürgerlichen gesellschaftlichen Bewegung vorhanden ist, die die Revolution um des Sieges über den Feind willen anstrebt. In Rußland aber ist, gerade weil es einer bürgerlich-demokratischen Revolution entgegengeht, eine solche Bewegung nachweislich vorhanden. Die fünf Sekretäre betrügen die Deutschen mit dem höchst lächerlichen Sophismus: das OK samt Tschcheïdse und Co. könnten keine revolutionären Chauvinisten in Rußland sein, denn in Europa sei die Verbindung von Revolutionismus und Chauvinismus absurd!

Ja, in Europa ist das absurd. In Rußland aber ist es eine Tatsache. Ihr könnt den "Priswy"-Leuten vorwerfen, daß sie schlechte bürgerliche Revolutionäre sind, aber ihr könnt nicht leugnen, daß sie in ihrer Art Chauvinismus mit Revolutionismus vereinigen. Die Julikonferenz der Volkstümler in Rußland, "Nasche Delo" und "Rabotscheje Utro" stehen in dieser Hinsicht voll und ganz auf dem Boden der "Priswy"-Leute, auch bei ihnen gehen Chauvinismus und Revolutionismus Hand in Hand.

Die Fraktion Tschcheïdse hat in ihrer Erklärung (S. 141-143 des Sammelbandes des OK) die gleiche Position eingenommen. Bei Tschcheïdse finden wir dieselben chauvinistischen Phrasen über die "Gefahr der Vernichtung", und wenn er den imperialistischen Charakter des Krieges, den "Frieden ohne Annexionen", die "gemeinsamen Aufgaben des gesamten internationale Proletariats", den "Kampf um den Frieden" usw. usf. anerkennt, so wird das ja auch vom "Rabotscheje Utro" und von den kleinbürgerlichen russischen Volkstümlern anerkannt. Im Sammelband des OK kann man auf S. 146 lesen, daß die kleinbürgerlichen Volkstümler sowohl den imperialistischen Charakter des Krieges anerkannt haben |136| als auch den "Frieden ohne Annexionen" und die Pflicht der Sozialisten (die Volkstümler wollen doch, ebenso wie das "Rabotscheje Utro", als Sozialisten gelten), "die möglichst baldige Wiederherstellung der internationalen Solidarität der sozialistischen Organisation zwecks Beendigung des Krieges anzustreben" usw. Den kleinbürgerlichen Volkstümlern dienen alle diese Phrasen zur Bemäntelung der Losung der "nationalen Verteidigung", die sie direkt aufgestellt haben, während Tschcheïdse und das OK wie auch das "Rabotscheje Utro" dieselbe Losung "Rettung des Landes vor der Vernichtung" nennen

Aus alledem ergibt sich, daß sowohl Tschcheïdse als auch das OK mit revolutionären Phrasen um sich werfen, die zu rein gar nichts verpflichten und die praktische Politik der "Priswy"- und "Nasche-Delo"-Leute rein gar nicht stören, während sie sich über diese Politik selbst ausschweigen. Die Mitarbeit in den Kriegsindustriekomitees wird von ihnen so oder so unterstützt.

Weniger Phrasen über Revolution, ihr Herren, mehr Klarheit, Geradlinigkeit und Ehrlichkeit in der praktischen Tagespolitik. Ihr versprecht Revolutionäre zu sein, jetzt aber helft ihr den Chauvinisten, der Bourgeoisie, dem Zarismus dadurch, daß ihr die Beteiligung der Arbeiter an den Kriegsindustriekomitees offen verteidigt oder diejenigen, die daran mitarbeiten, stillschweigend deckt, indem ihr sie nicht bekämpft.

Martow mag zu Kniffen greifen, soviel er will. Trotzki mag noch so gegen unsere Fraktionsmacherei zetern und mit diesem Gezeter (das alte Rezept des Turgenjewschen ... Helden!) seine sicherlich unfraktionellen "Erwartungen" bemänteln, daß jemand aus der Fraktion Tschcheïdse mit Trotzki "einverstanden" sein und auf Radikalismus, Internationalismus usw. schwören werde. Tatsache bleibt Tatsache. Es gibt keine Spur eines ernsthaften politischen Unterschieds nicht nur zwischen dem OK und der Fraktion Tschcheïdse, sondern auch zwischen diesen beiden Körperschaften und dem "Rabotscheje Utro" bzw. dem "Prisyw".

Deshalb gehen sie auch in Wirklichkeit alle zusammen, gegen unsere Partei, für die bürgerliche Politik der Teilnahme der Arbeiter an den Kriegsindustriekomitees, gemeinsam mit den parteilosen Arbeitern und den Volkstümlern. Die Ausflüchte und Beteuerungen der "Auslandssekretäre" aber, daß sie "nicht einverstanden" seien, bleiben leere Phrasen, die |137| die tatsächliche Politik der Massen ebensowenig berühren, wie die Schwüre der Südekum, Legien und David, daß sie "für den Frieden" und "gegen den Krieg" seien, diese nicht vom Chauvinismus reinwaschen.

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