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Gedruckt nachzulesen in: Wladimir Iljitsch Lenin - Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 22, 3. Auflage, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1960, Berlin/DDR. S. 107-119.
1. Korrektur.
Erstellt am 20.02.1999.
Nach dem deutschsprachigen Text.
["Vorbote" Nr. 1., Januar 1916]
I
|107| Ist die II. Internationale wirklich zusammengebrochen? Das leugnen hartnäckig ihre autoritativsten Vertreter, wie Kautsky und Vandervelde. Es ist nichts passiert, als daß die Verbindungen unterbrochen wurden; alles ist in Ordnung; das ist ihr Standpunkt.
Um die Wahrheit zu finden, wollen wir uns dem Manifest des Basler Kongresses vom Jahre 1912 zuwenden, das sich eben auf den gegebenen imperialistischen Weltkrieg bezieht und durch alle sozialistischen Parteien der Welt angenommen wurde. Bemerkenswert ist, daß kein einziger Sozialist in der Theorie zu leugnen wagt, daß es notwendig ist, jeden Krieg konkret-historisch zu würdigen.
Jetzt, da der Krieg ausgebrochen ist, wagen die offenen Opportunisten wie die Kautskyaner weder das Manifest von Basel zu leugnen noch das Verhalten der sozialistischen Parteien im Kriege an ihm zu prüfen. Weswegen? Weil das Manifest die einen wie die andern völlig bloßstellt.
Es findet sich darin kein Sterbenswort über die Verteidigung des Vaterlandes oder den Unterschied zischen Angriffs- und Verteidigungskrieg; kein Wort über all das, was die Opportunisten und Kautskyaner (1) Deutschlands und des Vierverbands jetzt an allen Straßenecken in die Welt hinaustrompeten. Das Manifest konnte darüber nicht sprechen, |108| weil das, was es sagt, die Anwendung solcher Begriffe absolut ausschließt. Es nennt ganz konkret eine Reihe ökonomischer und politischer Konflikte, die diesen Krieg jahrzehntelang vorbereitet haben, die sich im Jahre 1912 völlig und definitiv offenbarten und den Krieg im Jahre 1914 herbeiführten. Das Manifest nennt nämlich den österreichisch-russischen Konflikt um die "Vorherrschaft am Balkan", den Konflikt "Englands, Frankreichs und Deutschlands" (aller dieser Länder!) wegen ihrer "Eroberungspolitik in Kleinasien", den österreichisch-italienischen Konflikt wegen der "Herrschaftsgelüste" in Albanien usw. Das Manifest charakterisiert mit einem Worte alle diese Konflikte als Konflikte auf dem Boden des "kapitalistischen Imperialismus". Das Manifest erkennt also sonnenklar den eroberungslüsternen, imperialistischen, reaktionären, sklavenhalterischen Charakter des gegebenen Krieges an, das heißt einen solchen Charakter, der die Zulässigkeit der Vaterlandsverteidigung theoretisch zum Unsinn und praktisch zur Lächerlichkeit macht. Es kämpfen miteinander große Haifische, um fremde "Vaterländer" zu verschlingen. Das Manifest zieht die unvermeidlichen Schlüsse aus den unbestreitbaren historischen Tatsachen: dieser Krieg kann nicht "auch nur durch den geringsten Vorwand eines Volksinteresses gerechtfertigt werden"; er wird vorbereitet "zum Vorteile des Profits der Kapitalisten, des Ehrgeizes der Dynastien". Es wäre ein "Verbrechen", wenn die Arbeiter "aufeinander schießen" würden. So das Manifest.
Die Epoche des kapitalistischen Imperialismus ist die des reifen und überreifen Kapitalismus, der vor dem Zusammenbruch steht, der reif ist, dem Sozialismus Platz zu machen. Die Epoche 1789 bis 1871 war die des fortschrittlichen Kapitalismus, als auf der Tagesordnung der Geschichte die Niederringung des Feudalismus, des Absolutismus, die Abschüttelung des fremden Joches stand. Auf diesem und nur auf diesem Boden war die "Vaterlandsverteidigung" zulässig, das heißt eine Verteidigung gegen die Unterdrückung. Im Kriege gegen die imperialistischen Großmächte könnte dieser Begriff auch jetzt angewandt werden, aber es ist eine Absurdität ihn auf den Krieg zwischen den imperialistischen Großmächten anzuwenden, auf einen Krieg, in dem es darum geht, wer die Balkanländer, Kleinasien usw. mehr ausplündern kann. Deswegen ist es nicht verwunderlich, daß die "Sozialisten", die die "Vaterlandsverteidigung" in diesem gegebenen Kriege anerkennen, das Basler Manifest |109| umgehen, wie ein Dieb die Stelle meidet, wo er gestohlen hat. Das Manifest beweist doch, daß sie Sozialchauvinisten sind, das heißt Sozialisten in Worten, Chauvinisten in Wirklichkeit, die "ihrer" Bourgeoisie, helfen fremde Länder zu berauben, andere Nationen zu unterjochen. Das ist eben das Wesentlich in dem Begriffe des Chauvinismus, daß man "sein" Vaterland verteidigt, selbst wenn dessen Aktion auf Unterjochung fremder Vaterländer gerichtet ist.
Aus der Anerkennung des Krieges als eines nationalen Befreiungskrieges ergibt sich die eine Taktik, aus der Kennzeichnung desselben als eines imperialistischen die andere. Das Manifest weist auf diese zweite Taktik klar hin. Der Krieg wird "eine wirtschaftliche und politische Krise herbeiführen", die man "ausnutzen" muß nicht zur Milderung der Krise, nicht zur Vaterlandsverteidigung, sondern umgekehrt, zur "Aufrüttelung" der Massen, zur "Beschleunigung der Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft". Man kann nicht das beschleunigen, wozu die historischen Bedingungen noch nicht reif sind. Das Manifest hat anerkannt, daß die soziale Revolution möglich ist, ihre Vorbedingungen reif sind, daß sie eben im Zusammenhang mit dem Kriege kommt: "die herrschenden Klassen" haben Furcht "vor einer proletarischen Revolution", erklärt das Manifest unter Berufung auf das Beispiel der Pariser Kommune und der Revolution von 1905 in Rußland, d.h. der Massenstreiks, des Bürgerkrieges. Es ist eine Lüge, wenn man wie Kautsky behauptet, daß die Stellung des Sozialismus zu diesem Kriege nicht geklärt war. Diese Frage wurde nicht nur debattiert, sondern auch in Basel gelöst, wo die Taktik der proletarisch-revolutionären Massenkämpfe beschlossen wurde.
Es ist eine empörende Unwahrheit, wenn man das Basler Manifest ganz oder in seinen wesentlichsten Teilen umgeht und statt dessen Reden von Führern oder Resolutionen einzelner Parteien zitiert, die erstens vor Basel gehalten wurden, zweitens keine Entscheidungen der Parteien der ganzen Welt darstellen, drittens sich auf verschiedene mögliche Kriege, nur nicht eben auf diesen gegebenen Krieg beziehen. Der Kern der Frage besteht darin, daß die Epoche der nationalen Kriege zwischen europäischen Großmächten durch die Epoche der imperialistischen Kriege zwischen denselben ersetzt worden ist und daß das Basler Manifest diese Tatsache zuerst offiziell anerkennen mußte.
|110| Es wäre verfehlt, anzunehmen, das Basler Manifest könne nicht so bewertet werden, es sei eine Festtagsdeklamation, eine bombastische Drohung gewesen. So möchten es diejenigen hinstellen, die durch dieses Manifest bloßgestellt werden. Das ist aber unwahr. Das Manifest ist nur ein Resultat der großen propagandistischen Arbeit der ganzen Epoche der zweiten Internationale, nur eine Zusammenfassung dessen, was die Sozialisten in Hunderttausenden von Reden, Artikeln, Aufrufen in allen Sprachen in die Massen geworfen haben. Es wiederholt nur, was zum Beispiel Jules Guesde im Jahre 1899 schrieb, als er den sozialistischen Ministerialismus im Falle eines Krieges geißelte und von einem durch das "kapitalistische Brigantentum" angezettelten Kriege sprach ("En Garde!", S. 175); was Kautsky im Jahre 1909 im "Weg zur Macht" schrieb, als er das Ende der "friedlichen" Epoche, den Anfang der Epoche der Kriege und Revolutionen anerkannte. Das Basler Manifest als Phrase oder Irrtum hinzustellen, bedeutet, die ganze sozialistische Arbeit der letzten 25 Jahre als Phrase oder Irrtum hinzustellen. Der Widerspruch zwischen dem Manifest und seiner Nichtanwendung ist eben deswegen unerträglich für die Opportunisten und Kautskyaner, weil er den tiefsten Widerspruch in der Arbeit der II. Internationale aufdeckt. Der verhältnismäßig "friedliche" Charakter der Epoche 1874 bis 1914 nährte den Opportunismus anfangs als Stimmung, dann als Richtung, schließlich als Gruppe oder Schicht der Arbeiterbürokratie und der kleinbürgerlichen Mitläufer. Diese Elemente konnten die Arbeiterbewegung nur beherrschen, indem sie in Worten die revolutionären Ziele und die revolutionäre Taktik anerkannten. Sie konnten das Vertrauen der Massen erringen, weil sie schworen, daß die ganze "friedliche" Arbeit nur eine Vorbereitung der proletarischen Revolution sei. Dieser Widerspruch war eine Geschwulst, die einmal bersten mußte; und sie ist geborsten. Die ganze Frage besteht darin, ob man wie Kautsky & Co. den Eiter zurück in den Organismus hineinzupressen sucht wegen "Einigkeit" (mit dem Eiter) oder ob man den Eiter recht schnell und sauber beseitigen soll, trotz des momentanen akuten Schmerzes, den dies verursacht, um dem Organismus der Arbeiterbewegung zur völligen Gesundheit zu verhelfen.
Der Verrat am Sozialismus seitens derjenigen, die die Kriegskredite |111| bewilligt haben, in die Kabinette eingetreten sind, die Idee der Vaterlandsverteidigung im Jahre 1914/15 verfechten, ist offenkundig. Leugnen können diese Tatsache nur Heuchler. Es gilt, sie zu erklären.
II
Es wäre lächerlich, die ganze Frage als eine persönliche aufzufassen. Was hat die Sache mit dem Opportunismus zu tun, wenn solche Männer wie Plechanow und Guesde usw.? - fragt Kautsky ("Die Neue Zeit", 28. Mai 1915). Was hat die Sache mit dem Opportunismus zu tun, wenn Kautsky usw.? - antwortete im Namen der Opportunisten des Vierverbands Axelrod ("Die Krise der Sozialdemokratie", Zürich 1915, S. 21). Das ist eine Komödie. Um die Krise der ganzen Bewegung zu erklären, ist es nötig erstens die ökonomische Bedeutung der gegebenen Politik, zweitens ihre grundlegenden Ideen, drittens ihren Zusammenhang mit der Geschichte der Richtungen im Sozialismus zu prüfen.
Worin besteht das ökonomische Wesen der "Vaterlandsverteidigung" im Kriege des Jahres 1914/15? Die Bourgeoisie aller Großmächte führt den Krieg wegen der Aufteilung und Ausbeutung der Welt; wegen der Unterjochung der Völker. Einem kleinen Kreis der Arbeiterbürokratie, Arbeiteraristokratie und kleinbürgerlicher Mitläufer können Brocken von den großen Profiten der Bourgeoisie zufallen. Die Klassengrundlage des Sozialchauvinismus und des Opportunismus ist dieselbe: das Bündnis einer kleinen bevorrechteten Arbeiterschicht mit "ihrer" nationalen Bourgeoisie gegen die Masse der Arbeiterklasse, das Bündnis der Lakaien der Bourgeoisie mit ihr gegen die von ihr ausgebeutete Klasse.
Der politische Inhalt des Opportunismus und des Sozialchauvinismus ist derselbe: Zusammenarbeit der Klassen, Verzicht auf die Diktatur des Proletariats, Verzicht nur die revolutionäre Aktion, rücksichtslose Anerkennung der bürgerlichen Legalität, Mißtrauen dem Proletariat, Vertrauen der Bourgeoisie gegenüber. Der Sozialchauvinismus ist die direkte Weiterführung und Vollendung der englischen liberalen Arbeiterpolitik, des Millerandismus und Bernsteinismus.
|112| Der Kampf der zwei Grundtendenzen in der Arbeiterbewegung, des revolutionären und des opportunistischen Sozialismus, füllt die ganze Zeit von 1889 bis 1914 aus. Zwei Hauptrichtungen in der Frage der Stellung zum Kriege sind auch jetzt in allen Ländern vorhanden. Lassen wir die bürgerliche und opportunistische Manier, sich auf Personen zu berufen, beiseite. Nehmen wir die Richtungen, und dies in einer Reihe von Ländern. Nehmen wir zehn europäische Staaten: Deutschland, England, Rußland, Italien, Holland, Schweden, Bulgarien, die Schweiz, Belgien und Frankreich. In den ersten acht Ländern entspricht die Teilung in Opportunisten und Radikale der Teilung in Sozialchauvinisten und Internationalisten. Die Stützpunkte des Sozialchauvinismus sind in Deutschland die "Sozialistischen Monatshefte" und Legien & Co.; in England die Fabier und die Labour Party (die ILP befand sich immer im Blocke mir ihnen, unterstützte ihr Tageblatt und war in diesem Blocke immer schwächer als die Sozialchauvinisten, während in der BSP die Internationalisten drei Siebentel ausmachen); in Rußland die Richtung der "Nascha Sarja" (jetzt "Nasche Delo"), das Organisationskomitee, die Dumafraktion unter der Führung Tschcheïdses; in Italien die Reformisten unter der Führung Bissolatis; in Holland die Partei Troelstras: in Schweden die von Branting geführte Mehrheit der Partei; in Bulgarien die Partei der "Weitherzigen"; in der Schweiz Greulich & Co. Dagegen ist in allen diesen Ländern aus dem entgegengesetzten, dem radikalen Lager ein mehr oder weniger konsequenter Protest gegen den Sozialchauvinismus ertönt. Eine Ausnahme bilden nur zwei Länder: Frankreich und Belgien, in denen aber der Internationalismus auch existiert, nur sehr schwach ist.
Der Sozialchauvinismus ist der vollendete Opportunismus. Er ist reif geworden zu einem offenen, oft ordinären Bündnis mit der Bourgeoisie und den Generalstäben. Es ist eben dieses Bündnis, das ihm eine große Macht und das Monopol des legal gedruckten Wortes, der Irreführung der Massen gibt. Es ist lächerlich, jetzt noch den Opportunismus für eine Erscheinung im Innern unserer Partei zu halten. Es ist lächerlich, die Basler Resolution zusammen mit David-Legien, Hyndman; Plechanow, Webb durchführen zu wollen. Die Einheit mit den Sozialchauvinisten ist die Einheit mit der "eigenen" nationalen Bourgeoisie, die andere Nationen ausbeutet, ist die Spaltung des internationalen Proletariats. Das bedeutet nicht, daß die Abspaltung von den Opportunisten überall sofort |113| möglich sei, es bedeutet nur, daß sie historisch herangereift, für den revolutionären Kampf des Proletariats notwendig und unumgänglich ist, daß die Geschichte, die vom "friedlichen" zum imperialistischen Kapitalismus geführt hat, diese Spaltung vorbereitet. Volentem ducunt fata, nolentem trahunt. |Den Willigen führt das Schicksal, den Widerstrebenden schleppt es mit.|
III
Die klugen Vertreter der Bourgeoisie haben dies ausgezeichnet verstanden. Deswegen loben sie so die jetzigen sozialistischen Parteien, an deren Spitze die "Verteidiger des Vaterlandes", das heißt des imperialistischen Raubes, stehen. Deswegen belohnen die Regierungen die sozialchauvinistischen Führer, sei es durch Ministerposten (in Frankreich und England), sei es durch das Monopol der ungestörten legalen Existenz (in Deutschland und Rußland). Deswegen gedieh die Sache in Deutschland, wo die sozialdemokratische Partei am stärksten, ihre Verwandlung in eine nationalliberale, eine konterrevolutionäre Arbeiterpartei am anschaulichsten war - so weit, daß die Staatsanwaltschaft den Kampf zwischen "Minderheit" und "Mehrheit" als "Aufreizung zum Klassenhasse" behandelt! Deswegen sind die klugen Opportunisten am meisten um die Erhaltung der alten "Einigkeit" der alten Parteien bekümmert, die der Bourgeoisie 1914/15 so große Dienste geleistet haben. Die Auffassung dieser Opportunisten in allen Ländern der Welt drückt mit dankenswerter Offenheit ein Mitglied der deutschen Sozialdemokratie in einem im April 1915, in der reaktionären Revue "Preußische Jahrbücher", unter dem Decknamen Monitor veröffentlichten Artikel aus. Monitor ist der Meinung, daß es für die Bourgeoisie sehr gefährlich wäre, wenn die Sozialdemokratie sich noch nach recht entwickeln würde "Ihr (der Sozialdemokratie) Charakter als Arbeiterpartei mit sozialistischen Idealen muß von ihr behütet werden, denn an dem Tage, an dem sie diesen aufgeben würde, entstände eine neue Partei, die das verleugnete Programm in radikalerer Fassung zu dem ihrigen machen würde." ("Preußische Jahrbücher", 1915, Nr. 4, S. 50/51.)
Monitor hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Die englischen Liberalen und französischen Radikalen haben dies eben immer gewollt: revolu- |114| tionär klingende Phrasen, um die Massen irrezuführen, damit diese den Lloyd George, Sembat, Renaudel, Legien und Kautsky Vertrauen schenken, den Männern, die fähig sind, die "Vaterlandsverteidigung" im Raubkriege zu predigen.
Aber Monitor stellt nur eine Abart des Opportunismus dar: die offene, grobe, zynische. Die andere ist versteckt, fein, "ehrlich". (Engels sagte einmal: Die "ehrlichen" Opportunisten sind die der Arbeiterklasse gefährlichsten ...) Hier ein Beispiel.
Kautsky schreibt in der "Neuen Zeit" (26. November 1915): "Die Opposition gegen die Mehrheit ist im Wachsen; die Massen sind oppositionell." "Nach dem Kriege" (nur nach dem Kriege? N. L.) "werden die Klassengegensätze sich so verschärfen, daß der Radikalismus in den Massen die Oberhand gewinnt." Es "droht uns nach dem Kriege" (nur nach dem Kriege? N. L.) "die Flucht der radikalen Elemente aus der Partei und ihr Zustrom zu einer Richtung antiparlamentarischer" (?? soll heißen: außerparlamentarischer) "Massenaktionen". "So zerfällt unsere Partei in zwei Extreme, die nichts Gemeinsames haben." Zur Rettung der Einheit sucht Kautsky die Reichstagsmehrheit zu überreden, der Minderheit die Erlaubnis für ein paar radikale Parlamentsreden zu erteilen. Das bedeutet, daß Kautsky vermittelst ein paar radikaler Parlamentsreden die revolutionären Massen mit den Opportunisten aussöhnen will, die "nichts Gemeinsames" mit der Revolution haben, die seit langem die Leitung der Gewerkschaften in den Händen halten und jetzt, auf das direkte Bündnis mit der Bourgeoisie und mit der Regierung gestützt, die Leitung der Partei beherrschen. Wodurch unterscheidet sich das in der Sache selbst von dem "Programm" Monitors? Durch nichts als süßliche Phrasen, die den Marxismus prostituieren.
In der Sitzung der Reichstagsfraktion vom 15. März 1915 "warnte" der Kautskyaner Wurm "die Fraktion, den Bogen zu überspannen; in den Arbeitermassen wachse die Opposition gegen die Fraktionsmehrheit; es gelte, beim marxistischen" (?! wohl ein Druckfehler: soll heißen "monitorischen") "Zentrum zu verharren". ("Klassenkampf gegen den Krieg! Material zum 'Fall Liebknecht'". Als Manuskript gedruckt. S. 67.) Wir sehen also, daß noch im März 1915 im Namen aller Kautskyaner (das sogenannte "Zentrum") die Tatsache anerkannt wurde, daß die Massen revolutionär sind!! Und 81/2 Monate später schlägt Kautsky noch |115| einmal vor, diese Massen, die kämpfen wollen, mit der opportunistischen, konterrevolutionären Partei "auszusöhnen", und zwar mir Hilfe einiger revolutionär klingender Phrasen!!
Der Krieg ist oft dadurch nützlich, daß er das Faule aufweist, das Konventionelle wegfegt.
Vergleichen wir die englischen Fabier mit den deutschen Kautskyanern. Über die ersten schrieb ein wirklicher Marxist, Friedrich Engels, am 18. Januar 1893: ".., eine Bande von Strebern, die Verstand genug haben, die Unvermeidlichkeit der sozialen Umwälzung einzusehn, die aber dem rohen Proletariat unmöglich diese Riesenarbeit allein anvertrauen können und deshalb die Gewogenheit haben, sich an die Spitze zu stellen; Angst vor der Revolution ist ihr Grundprinzip." (Briefwechsel mit Sorge, S. 390.)
Und am 11. November 1893: "... diese hochnäsigen Bourgeois, die sich in Gnaden herbeilassen wollen, das Proletariat von oben herab zu befreien, wenn es nur so einsichtig sein will zu begreifen, daß so eine rohe ungebildete Masse sich nicht selbst befreien kann und zu nichts kommt, außer durch die Gnade dieser gescheuten Advokaten, Literaten und sentimentalen Weibsleute." (Ebenda, S. 401.)
In der Theorie blickt Kautsky mit einer Verachtung auf die Fabier wie der Pharisäer auf den armen Sünder. Denn er schwört doch auf den "Marxismus". Aber welcher Unterschied besteht zwischen ihnen praktisch? Beide haben das Basler Manifest unterzeichnet, und beide haben es so behandelt wie Wilhelm II. die belgische Neutralität. Marx hat aber sein ganzes Leben lang die Leute gegeißelt, die die revolutionäre Flamme der Arbeiter auszulöschen suchten.
Kautsky hat gegen die revolutionären Marxisten eine neue Theorie des "Ultraimperialismus" aufgestellt. Er versteht darunter die Verdrängung des "Kampfes der nationalen Finanzkapitale untereinander" durch "die gemeinsame Ausbeutung der Welt durch das international verbündete Finanzkapital". ("N. Z.", 30. April 1915.) Er fügt aber bei: "Ob eine solche neue Phase des Kapitalismus realisierbar ist, das zu entscheiden fehlen noch die genügenden Voraussetzungen." Also auf Grund von Vermutungen über eine "neue Phase" leugnet der Erfinder dieser "Phase" - obwohl er selbst nicht wagt, sie direkt für "realisierbar" zu erklären - die gestern von ihm selbst gemachten revolutionären Erklärungen, leug- |116| net er die revolutionären Aufgaben und die revolutionäre Taktik des Proletariats jetzt, in der "Phase" der schon begonnenen Krise, des Krieges, einer unerhörten Verschärfung der Klassengegensätze! Ist dies nicht der schäbigste Fabianismus?
Der Führer der russischen Kautskyaner, Axelrod, sieht den "Schwerpunkt des Internationalisierungsproblems der proletarischen Befreiungsbewegung" in der "Internationalisierung der Alltagspraxis": zum Beispiel muß "die Arbeiterschutz- und Versicherungsgesetzgebung zum Objekt der internationalen Aktionen und Organisationen der Arbeiter werden". (Axelrod, "Die Krise der Sozialdemokratie", Zürich 1915, S. 39/40.) Es ist klar, daß nicht nur Legien, David, die Webbs' sondern selbst Lloyd George, Naumann, Briand und Miljukow diesem "Internationalismus" vollkommen beipflichten werden. Für die ferne, ferne Zukunft ist Axelrod, wie im Jahre 1912, bereit, auch die revolutionärsten Phrasen zu dreschen. Die zukünftige Internationale "wird (den Regierungen im Falle der Kriegsgefahr) entgegentreten mit der Entfachung eines revolutionären Sturmes". Schaut mal her, wie tapfer wir sind! Handelt es sich aber darum, jetzt die beginnende revolutionäre Gärung in den Massen zu unterstützen und zu fördern, so antwortet Axelrod, diese Taktik der revolutionären Massenaktionen "hätte noch eine gewisse Berechtigung, wenn wir unmittelbar am Vorabend der sozialen Revolution stünden, ähnlich wie es etwa in Rußland seit den Studentendemonstrationen des Jahres 1901 der Fall war, die das Herannahen entscheidender Kämpfe gegen den Absolutismus ankündigten". Jetzt aber sind das "Utopien", "Bakunismus" usw. ganz im Sinne Kolbs, Davids, Südekums und Legiens.
Der gute Axelrod vergißt nur, daß im Jahre 1901 niemand in Rußland wußte und wissen konnte, daß der erste "entscheidende Kampf" in vier Jahren sage und schreibe: vier Jahren eintreten und "unentschieden" bleiben wird. Und trotzdem waren damals nur wir revolutionäre Marxisten im Recht: wir haben die Kritschewski und Martynow ausgelacht, die unmittelbar zum Sturme riefen. Wir rieten nur den Arbeitern, die Opportunisten überall zum Teufel zu jagen und mit allen Kräften die Demonstrationen und alle andern revolutionären Massenaktionen zu unterstützen, zu verschärfen und auszubreiten. Ganz analog ist die jetzige Lage Europas. Es wäre unsinnig, "unmittelbar" Sturm zu blasen. Es wäre aber schändlich, den Namen Sozialdemokrat zu tragen und den Ar- |117| beitern nicht zu raten, mit den Opportunisten zu brechen und mit allen Mitteln die beginnende revolutionäre Gärung und die Demonstrationen zu unterstützen, zu vertiefen, auszubreiten und zu verschärfen. Die Revolution fällt niemals ganz fertig vom Himmel, und man weiß niemals beim Beginn der revolutionären Gärung ob und wann aus ihr die "wahre", "echte" Revolution entstehen wird. Kautsky und Axelrod geben den Arbeitern alte, abgebrauchte konterrevolutionäre Ratschläge. Kautsky und Axelrod speisen die Massen mit der Hoffnung ab, die zukünftige Internationale werde schon sicher revolutionär sein - nur um jetzt die Herrschaft der konterrevolutionären Elemente, der Legien, David, Vandervelde, Hyndman zu verteidigen, zu beschönigen, zu verdecken. Ist es nicht klar, daß die "Einigkeit" mit Legien & Co. das sicherste Mittel ist, die "zukünftige" revolutionäre Internationale vorzubereiten?
"Den Weltkrieg in einen Bürgerkrieg umwandeln zu wollen, wäre Wahnsinn gewesen", erklärt der Führer der deutschen Opportunisten, David ("Die Sozialdemokratie im Weltkrieg", 1915, S. 42), indem er auf das Manifest des Zentralkomitees unserer Partei vom 4. November 1914 antwortet. In diesem Manifest hieß es unter anderm:
"Wie groß die Schwierigkeiten dieser Umwandlung zur gegebenen Zeit auch sein mögen - die Sozialisten werden niemals ablehnen, die Vorarbeiten in der bezeichneten Richtung systematisch, unbeugsam und energisch auszuführen, da der Krieg zur Tatsache geworden ist."
(Zitiert auch bei David. S. 474) Einen Monat vor dem Erscheinen des Buche Davids veröffentlichte unsere Partei Resolutionen, in denen diese "systematische Vorbereitung" folgendermaßen erklärt wurde 1. Ablehnung der Kredite; 2. Bruch des Burgfriedens; 3. Bildung illegaler Organisationen; 4. Unterstützung der Solidaritätskundgebungen in den Schützengräben; 5. Unterstützung aller revolutionären Massenaktionen.
David ist fast ebenso tapfer wie Axelrod: Im Jahre 1942 hielt er die Berufung auf die Pariser Kommune im Falle des Krieges nicht für "Wahnsinn" ...
Plechanow, der typische Vertreter der Quadrupelentente-Sozialchauvinisten, beurteilt die revolutionäre Taktik in derselben Weise wie David. |118| Er nannte sie ein " Mittelding zwischen Traum und Farce". Aber hören wir Kolb, den offenen Opportunisten, der schrieb: "Die Folge der Taktik derer um Liebknecht wäre ein bis zur Siedehitze gesteigerter innerer Kampf unter der deutschen Nation." ("Die Sozialdemokratie am Scheidewege", S. 50.)
Was ist aber ein bis zur Siedehitze gesteigerter Kampf, wenn nicht der Bürgerkrieg?
Wäre die Taktik unseres Zentralkomitees, die in den Hauptsachen der Taktik der Zimmerwalder Linken gleicht, ein "Wahnsinn", "Traum", "Abenteuer", "Bakunismus" - wie es David, Plechanow, Axelrod, Kautsky usw. behaupten -, sie könnte niemals zum "inneren Kampfe unter einer Nation" führen, geschweige denn zu einem gesteigerten. Nirgends in der Welt hat die anarchistische Phrase zu einem inneren Kampfe in der Nation geführt. Die Tatsachen besagen aber, daß eben im Jahre 1915, eben auf der Basis der durch den Krieg herbeigeführten Krise die revolutionäre Gärung in den Massen wächst; es wachsen die Streiks und politischen Demonstrationen in Rußland, die Streiks in Italien und England, die Hunger- und politischen Demonstrationen in Deutschland. Was ist das anderes als der Beginn revolutionärer Massenkämpfe?
Die Unterstützung, Entwicklung, Ausbreitung, Verschärfung der revolutionären Massenaktionen, die Bildung der illegalen Organisationen, ohne welche man den Volksmassen selbst in den "freien" Ländern nicht die Wahrheit sagen darf: das ist das ganze praktische Programm der Sozialdemokratie in diesem Kriege. Alles andere ist Lüge oder Phrase, wie es auch mit opportunistischen oder pazifistischen Theorien ausgeschmückt werden mag.(2)
|119| Wenn man uns sagt, daß diese "russische Taktik" (ein Ausdruck Davids) auf Europa nicht paßt, dann antworten wir mit einem einfachen Hinweis auf Tatsachen. In Berlin fand sich am 30. Oktober eine Deputation der Berliner Genossinnen beim Parteivorstand ein und erklärte, "die Verbreitung unzensierter Druckschriften und Flugblätter und die Abhaltung 'nicht genehmigter' Versammlungen wäre bei dem großen Organisationsapparat heute leichter möglich als zur Zeit des Sozialistengesetzes. Es fehlt nicht an Mitteln und Wegen, sondern offensichtlich an dem Willen" ("Berner Tagwacht", 1915, Nr. 271.)
Wurden diese schlechten Genossinnen durch russische "Sektierer" usw. irregeführt? Oder stellen nicht diese Genossinnen die wirklichen Massen dar, sondern Legien und Kautsky? - Legien, der in seinem Referat am 27. Januar 1915 die "anarchistische" Idee der Bildung geheimer Organisationen verdonnerte; Kautsky, der so konterrevolutionär wurde, daß er am 26. November, vier Tage vor der Demonstration von 10.000 Menschen in Berlin, die Straßendemonstrationen als "Abenteuer" denunzierte
Genug der Phrasen, genug des prostituierten "Marxismus" à la Kautsky. Nach 25 Jahren der II. Internationale, nach dem Basler Manifest werden die Arbeiter den Phrasen keinen Glauben mehr schenken. Der Opportunismus ist überreif geworden, er ging definitiv als Sozialchauvinismus in das Lager der Bourgeoisie über: Geistig und politisch hat er mit der Sozialdemokratie gebrochen. Er wird mit ihr auch organisatorisch brechen. Die Arbeiter fordern schon "unzensierte Druckschriften und "nicht genehmigte" Versammlungen, das heißt geheime Organisationen zur Unterstützung der revolutionären Bewegung der Massen. Nur ein solcher "Krieg dem Krieg" ist sozialdemokratische Arbeit, keine Phrase. Und diese Arbeit wird die Menschheit, wie groß auch die Schwierigkeiten, zeitweiligen Niederlagen, Irrtümer, Abirrungen Unterbrechungen sein mögen, zur siegreichen proletarischen Revolution fuhren.
N. Lenin
Fußnoten von Wladimir Iljitsch Lenin
(1) Es handelt sich nicht um den persönlichen Anhang Kautskys in Deutschland sondern um den internationalen Typus von angeblichen Marxisten, die zwischen Opportunismus und Radikalismus schwanken und in Wirklichkeit als Feigenblatt für den Opportunismus dienen. <=
(2) Auf der Berner Internationalen Frauenkonferenz im März 1915 wiesen die Vertreterinnen des Zentralkomitees unserer Partei auf die unbedingte Notwendigkeit hin, illegale Organisationen zu schaffen. Man lehnte dies ab. Die Engländerinnen spotteten über diesen Vorschlag. indem sei die englische "Freiheit" priesen. Nach einigen Monaten bekam man aber englische Zeitungen, wie "Labour Leader", mit weißen Flecken, und dann Nachrichten über polizeiliche Haussuchungen, Konfiskationen der Broschüren, Verhaftungen und drakonische Urteile gegen die vom Frieden - nur vom Frieden - sprechenden Genossen in England! <=
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