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Gedruckt nachzulesen in: Wladimir Iljitsch Lenin - Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 22, 3. Auflage, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1960, Berlin/DDR. S. 101-106.

1. Korrektur.
Erstellt am 20.02.1999.

Wladimir Iljitsch Lenin

Vorwort zu N. Bucharins Broschüre "Weltwirtschaft und Imperialismus"

Zuerst veröffentlicht am 21. Januar 1927 in der "Prawda" Nr. 17.
Nach dem Manuskript.


|101| Die Wichtigkeit und Aktualität des Themas, das in N. I. Bucharins Arbeit behandelt wird, bedarf keiner besonderen Erläuterung. Das Problem des Imperialismus ist nicht nur eines der wesentlichsten, sondern, man kann sagen, das wesentlichste Problem auf dem Gebiet der Wirtschaftswissenschaft, das den Formwandel des Kapitalismus in jüngster Zeit zum Gegenstand hat. Die Kenntnis der Tatsachen, die sich darauf beziehen und die der Verfasser auf Grund der neuesten Materialien so reichhaltig zusammengestellt hat, ist ganz unerläßlich für jeden, ob er sich nun für Ökonomie allein oder für eine beliebige andere Lebenssphäre der modernen Gesellschaft interessiert. Von einer konkret-historischen Einschätzung des gegenwärtigen Krieges kann selbstverständlich keine Rede sein, wenn diese nicht auf einer vollständigen Klarlegung sowohl des ökonomischen als auch des politischen Wesens des Imperialismus beruht. Anders kann man zu keinem Verständnis der ökonomischen und diplomatischen Geschichte der letzten Jahrzehnte gelangen, ohne ein solches Verständnis aber wäre es einfach lächerlich, eine richtige Auffassung vom Krieg erarbeiten zu wollen. Vom Standpunkt des Marxismus, der in dieser Frage die Anforderungen der modernen Wissenschaft überhaupt besonders plastisch zum Ausdruck bringt, kann man nur lächeln über die "wissenschaftliche" Bedeutung solcher Methoden, bei denen unter konkret-historischer Einschätzung des Krieges das Herausgreifen von einzelnen belanglosen, den herrschenden Klassen eines Landes genehmen oder bequemen Fakten aus diplomatischen "Dokumenten", aus politischen Tagesereignissen usw. verstanden wird. G. Plechanow mußte beispielsweise endgültig mit dem Marxismus brechen, um die |102| Analyse der grundlegenden Eigenschaften und Tendenzen des Imperialismus als des Systems der ökonomischen Verhältnisse des jüngsten, hochentwickelten, reifen und überreifen Kapitalismus durch das Herausgreifen von einigen belanglosen Fakten ersetzen zu können, die den Purischkewitsch und Miljukow genehm sind. Dabei wird der wissenschaftliche Begriff des Imperialismus herabgewürdigt auf das Niveau eines Schimpfworts an die Adresse der unmittelbaren Konkurrenten, Rivalen und Gegner der zwei eben genannten Imperialisten, die mit ihren Rivalen und Gegnern auf ganz dem gleichen Klassenboden stehen! In unserer Zeit der vergessenen Worte, der verlorenen Prinzipien, der umgestoßenen Weltanschauungen, der beiseite geworfenen Resolutionen und feierlichen Versprechungen darf man sich darüber nicht weiter wundern.

Die wissenschaftliche Bedeutung der Arbeit N. I. Bucharins liegt besonders darin, daß er die Grundtatsachen der Weltwirtschaft betrachtet, die den Imperialismus als Ganzes, als eine bestimmte Entwicklungsstufe des höchstentwickelten Kapitalismus betreffen. Es gab eine Epoche des verhältnismäßig "friedlichen" Kapitalismus, als er in den fortgeschrittenen Ländern Europas den Feudalismus vollständig besiegt hatte und sich - relativ - ruhig und gleichmäßig entwickeln konnte, indem er sich "friedlich" über riesige Gebiete noch unbesetzter und in den kapitalistischen Strudel noch nicht endgültig hineingerissener Länder ausbreitete. Auch in dieser Epoche, die ungefähr in die Jahre 1871-1914 fällt, schuf der "friedliche" Kapitalismus natürlich Lebensbedingungen, die von einem wirklichen "Frieden", sowohl im militärischen Sinne als auch im allgemeinen Klassensinn, recht weit entfernt waren. Für neun Zehntel der Bevölkerung der fortgeschrittenen Länder, für Hunderte von Millionen Menschen in den Kolonien und zurückgebliebenen Ländern war dies eine Epoche nicht des "Friedens", sondern der Unterdrückung, der Qual, des Schreckens eines Schreckens, der vielleicht um so fürchterlicher war, als er ein "Schrecken ohne Ende" zu sein schien. Diese Epoche ist nun unwiderruflich vorüber, sie ist abgelöst worden von einer Epoche verhältnismäßig viel stürmischeren, sprunghafteren, katastrophaleren, konfliktreicheren Charakters, in der für die Masse der Bevölkerung nicht so sehr der "Schrecken ohne Ende" als vielmehr das "Ende mit Schrecken" typisch wird.

Es ist außerordentlich wichtig, dabei zu beachten, daß dieser Wechsel |103| durch nichts anderes herbeigeführt worden ist als durch die unmittelbare Entwicklung, Erweiterung und Fortsetzung der dem Kapitalismus und der Warenproduktion überhaupt zutiefst innewohnenden Tendenzen. Zunahme des Austauschs, Zunahme der Großproduktion - das sind die Grundtendenzen, die seit Jahrhunderten durchweg in der ganzen Welt zu beobachten sind. Auf einer bestimmten Entwicklungsstufe des Austauschs, auf einer bestimmten Wachstumsstufe der Großproduktion, nämlich auf der Stufe, die ungefähr an der Wende des 19. und 20. Jahrhunderts erreicht war, führte der Austausch zu einer solchen Internationalisierung der Wirtschaftsbeziehungen und Internationalisierung des Kapitals, nahm die Großproduktion einen derartigen Umfang an, daß an die Stelle der freien Konkurrenz das Monopol zu treten begann. Typisch wurden nun nicht mehr die - innerhalb eines Landes und in den Beziehungen zwischen den Ländern - "frei" konkurrierenden Unternehmungen, sondern die monopolistischen Unternehmerverbände, die Trusts. Zum typischen "Herrscher" der Welt wurde nunmehr das Finanzkapital, das besonders beweglich und elastisch, national wie international besonders verflochten ist, das besonders unpersönlich und von der direkten Produktion losgelöst ist, das sich besonders leicht konzentriert und bereits besonders stark konzentriert hat, so daß buchstäblich einige hundert Milliardäre und Millionäre die Geschicke der ganzen Welt in ihren Händen halten.

Urteilt man abstrakt-theoretisch, so kann man zu dem Schluß kommen, zu dem Kautsky - der, obzwar in etwas anderer Weise, ebenfalls mit dem Marxismus gebrochen hat - denn auch gelangt ist: daß es nämlich nicht mehr sehr lange dauern werde, bis sich diese Kapitalmagnaten im Weltmaßstab zu einem einzigen Welttrust zusammenschlössen, der dann die Konkurrenz und den Kampf der staatlich getrennten Finanzkapitale durch die internationale Vereinigung des Finanzkapitals ersetzen würde. Diese Schlußfolgerung ist jedoch genauso abstrakt, simplifiziert und falsch wie analoge Gedankengänge unserer "Struvisten" und "Ökonomisten" in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als diese aus der Fortschrittlichkeit des Kapitalismus, aus seiner Unvermeidlichkeit, aus seinem endgültigen Sieg in Rußland Schlüsse zogen, die bald apologetisch waren (Anbetung des Kapitalismus, Versöhnung mit ihm, Beweihräucherung statt Bekämpfung), bald apolitisch (d.h. Negierung der Politik oder Negierung ihrer Bedeutung, der Wahrscheinlichkeit von |104| allgemeinen politischen Erschütterungen usw.; der spezifische Fehler der "Ökonomisten"), bald sogar geradezu "streikistisch" ("Generalstreik" als Apotheose der Streikbewegung, getrieben bis zum Vergessen oder Ignorieren der übrigen Formen der Bewegung und schnurstracks "hinüberspringend" vom Kapitalismus zu dessen Überwindung bloß durch Streik, allein durch Streik). Es gibt Anzeichen dafür, daß die unbestreitbare Tatsache der Fortschrittlichkeit des Kapitalismus im Vergleich zum halbkleinbürgerlichen "Paradies" der freien Konkurrenz, der Unvermeidlichkeit des Imperialismus und seines endgültigen Sieges über den "friedlichen" Kapitalismus in den fortgeschrittenen Ländern der Welt auch heute durchaus zu nicht minder zahlreichen und mannigfaltigen politischen und apolitischen Fehlern und Trugschlüssen führen kann.

Insbesondere hat bei Kautsky der offene Bruch mit dem Marxismus nicht die Form der Negierung oder des Vergessens der Politik angenommen, nicht die Form des "Überspringens" der in der imperialistischen Epoche besonders zahlreichen und mannigfaltigen politischen Konflikte, Erschütterungen und Umgestaltungen, nicht die Form der Apologie des Imperialismus, sondern die des Traums von einem "friedlichen" Kapitalismus. Der "friedliche" Kapitalismus ist abgelöst durch den nichtfriedlichen, kriegslüsternen, katastrophenreichen Imperialismus, das muß Kautsky anerkennen, weil er es bereits 1909 in einer besonderen Schrift anerkannt hat, in der er zum letztenmal als Marxist mit einheitlichen Schlußfolgerungen aufgetreten ist. Wenn es aber nicht angeht, ganz einfach, offen und derb von einer Rückkehr vom Imperialismus zum "friedlichen" Kapitalismus zu träumen - ließe sich dann nicht vielleicht diesen ihrem Wesen nach kleinbürgerlichen Träumen die Form von unschuldigen Betrachtungen über einen "friedlichen" "Ultraimperialismus" geben? Bezeichnet man als Ultraimperialismus den internationalen Zusammenschluß der nationalen (richtiger gesagt: der staatlich getrennten) Imperialismen, der für den Kleinbürger besonders unangenehme, besonders beunruhigende und störende Konflikte wie Kriege, politische Erschütterungen usw. beseitigen "könnte" - warum sollte man dann nicht die gegenwärtige, bereits angebrochene und eingetretene, äußerst konflikt- und katastrophenreiche Epoche des Imperialismus abtun mit unschuldigen Träumen von einem relativ friedlichen, relativ konfliktlosen, relativ katastrophenfreien "Ultraimperialismus"? Warum sollte man dann nicht |105| die "schroffen" Aufgaben, welche die für Europa bereits angebrochene imperialistische Epoche stellt und schon gestellt hat, abtun mit Träumen davon, daß diese Epoche vielleicht bald vorübergehen werde und daß in ihrem Gefolge vielleicht eine relativ "friedliche", keine "schroffe" Taktik erfordernde Epoche des "Ultraimperialismus" denkbar sei? Und so sagt denn auch Kautsky: "Eine solche neue (ultraimperialistische) Phase des Kapitalismus ist jedenfalls denkbar. Ob auch realisierbar, das zu entscheiden fehlen noch die genügenden Voraussetzungen" ("Die Neue Zeit", 30. IV. 1915, S. 114).

Nicht die geringste Spur von Marxismus findet sich in diesem Bestreben, den bereits angebrochenen Imperialismus leichthin abzutun und sich in den Traum von einem "Ultraimperialismus" zu retten, von dem man gar nicht weiß, ob er realisierbar ist. Der Marxismus wird in dieser Konstruktion für jene "neue Phase des Kapitalismus" anerkannt, für deren Realisierbarkeit sich ihr Erfinder selbst nicht verbürgt; für die gegenwärtige, bereits angebrochene Phase aber wird uns statt des Marxismus das kleinbürgerliche, durch und durch reaktionäre Bestreben vorgesetzt, die Widersprüche abzustumpfen. Kautsky hatte versprochen, in der kommenden, angespannten, katastrophenreichen Epoche, die er in seiner 1909 verfaßten Schrift über diese kommende Epoche mit aller Bestimmtheit vorhersagen und anerkennen mußte, Marxist zu sein. Heute, da schon völlig zweifelsfrei feststeht, daß diese Epoche angebrochen ist, verspricht Kautsky wiederum nur, in einer kommenden, wer weiß, ob überhaupt realisierbaren, Epoche des Ultraimperialismus Marxist zu sein! Kurzum, am laufenden Band Versprechungen, in einer anderen Epoche Marxist zu sein, nur nicht heute, nicht unter den gegenwärtigen Bedingungen, nicht in der jetzigen Epoche! Marxismus auf Kredit, Marxismus auf Sicht, Marxismus für morgen; für heute aber die kleinbürgerliche, opportunistische Theorie - und nicht nur Theorie - von der Abstumpfung der Widersprüche. Das ist eine Art Internationalismus für die Ausfuhr, wie er "heutzutage" sehr weit verbreitet ist. Leidenschaftliche - o höchst leidenschaftliche! - Internationalisten und Marxisten sympathisieren dabei mit jeder Äußerung von Internationalismus ... im Lager der Gegner, überall, nur nicht bei sich zu Hause, nur nicht bei den eigenen Verbündeten; sie sympathisieren mit der Demokratie ... wenn diese ein bloßes Versprechen "der Verbündeten" bleibt; sie sympathi- |106| sieren mit der "Selbstbestimmung der Nationen" ... nur nicht derjenigen, die von der Nation abhängig sind, welche die Ehre hat, den Sympathisierenden in ihren Reihen zu zählen. Kurzum, es ist eine von tausenderlei Spielarten der Heuchelei.

Läßt sich indes bestreiten, daß abstrakt eine neue Phase des Kapitalismus nach dem Imperialismus, nämlich ein Ultraimperialismus, "denkbar" ist? Nein. Abstrakt kann man sich eine solche Phase denken. Nur bedeutet das in der Praxis, daß man zu einem Opportunisten wird, der die akuten Aufgaben der Gegenwart leugnet, um sich Träumen von künftigen, nicht akuten Aufgaben hinzugeben. In der Theorie heißt das, sich nicht auf die in der Wirklichkeit vor sich gehende Entwicklung zu stützen, sondern sich um dieser Träume willen nach Gutdünken von ihr abzuwenden. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Entwicklung in der Richtung auf einen einzigen, ausnahmslos alle Unternehmungen und ausnahmslos alle Staaten verschlingenden Welttrust verläuft. Doch diese Entwicklung erfolgt unter solchen Umständen, in einem solchen Tempo, unter solchen Widersprüchen, Konflikten und Erschütterungen - keineswegs nur ökonomischen, sondern auch politischen, nationalen usw. usf. -, daß notwendigerweise, bevor es zu einem einzigen Welttrust, zu einer "ultraimperialistischen" Weltvereinigung der nationalen Finanzkapitale kommt, der Imperialismus unweigerlich bersten muß, daß der Kapitalismus in sein Gegenteil umschlagen wird.

XII. 1915
W. Iljin

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