An den Sekretär der "Liga für sozialistische Propaganda"1, C.W. Fitzgerald

Wladimir Iljitsch Lenin

Geschrieben (in englischer Sprache) zwischen dem 31. Oktober und 9. November (13. und 22. November) 19152. Zuerst veröffentlicht im Lenin Sammelband II im Jahre 1924. Deutsche Übersetzung Dietz Verlag (Berlin) 1960. Die Seitenzahlen beziehen sich auf die Veröffentlichung in Lenin Werke, Bd. 21 - August 1914 - Dezember 1915. Dietz Verlag Berlin, 1977. Eine Transkription des englischen Originals findet sich im Marxistst Internet Archive (MIA)

430>Liebe Genossen!

Wir haben uns sehr gefreut, als wir Ihr Flugblatt erhielten. Ihr Appell an die Mitglieder der Sozialistischen Partei, für eine neue Internationale, für den wahren revolutionären Sozialismus zu kämpfen, wie ihn Marx und Engels gelehrt haben, und gegen den Opportunismus, insbesondere gegen diejenigen zu kämpfen, die für die Teilnahme der Arbeiterklasse an einem Verteidigungskrieg eintreten, entspricht voll und ganz der Stellung, die unsere Partei (die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands, das Zentralkomitee) vom ersten Tag dieses Krieges an einnahm und die sie seit jeher im Laufe von über zehn Jahren eingenommen hat.

Wir senden Ihnen die aufrichtigsten Grüße und wünschen Ihnen viel Erfolg in unserem Kampf für den wahren Internationalismus.

In unserer Presse und unserer Propaganda gehen wir an eine Reihe von Fragen anders heran, als das in Ihrem Programm geschieht. Wir halten es für unbedingt notwendig, Sie kurz auf diese Meinungsverschiedenheiten hinzuweisen, damit sofort ernsthafte Schritte unternommen werden, um den internationalen Kampf der revolutionären Sozialisten, die sich auf keinen Kompromiß einlassen, insbesondere der Marxisten, in allen Ländern zu koordinieren.

An der alten, zweiten (1889-1914) Internationale üben wir schärfste Kritik, wir erklären sie für tot und halten sie nicht für wert, auf der alten Basis wiedererrichtet zu werden. Aber wir haben in unserer Presse niemals behauptet, daß bisher die sogenannten „unmittelbaren Forderungen" überbetont worden seien und daß dadurch der Sozialismus ver-<433>wässert werden könne. Wir behaupten und beweisen, daß alle bürgerlichen Parteien, alle Parteien außer der revolutionären Partei der Arbeiterklasse, lügen und heucheln, wenn sie von Reformen sprechen. Wir wollen der Arbeiterklasse helfen, eine reale, wenn auch noch so geringfügige Verbesserung ihrer (ökonomischen und politischen) Lage zu erreichen, und wir fügen stets hinzu, daß keinerlei Reform dauerhaft, echt und ernsthaft sein kann, wenn sie nicht durch revolutionäre Kampfmethoden der Massen unterstützt wird. Wir lehren stets, daß für eine sozialistische Partei, die diesen Kampf um Reformen nicht mit den revolutionären Methoden der Arbeiterbewegung vereint, die Gefahr besteht, sich in eine Sekte zu verwandeln, sich von den Massen loszulösen, und daß dies die ernsteste Gefahr für den Erfolg des wahren revolutionären Sozialismus ist.

In unserer Presse treten wir immer für die innerparteiliche Demokratie ein. Aber wir sprechen uns niemals gegen die Zentralisation der Partei aus. Wir sind für den demokratischen Zentralismus. Wir sagen, daß die Zentralisation der deutschen Arbeiterbewegung nicht ihre schwache, sondern ihre starke und gute Seite ist. Der Fehler der heutigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands liegt nicht in ihrer Zentralisation, sondern in der Vorherrschaft der Opportunisten, die aus der Partei ausgeschlossen werden müssen, besonders jetzt, nach ihrem verräterischen Auftreten während des Krieges. Könnte in jeder gegebenen Krise eine kleine Gruppe (unser ZK ist beispielsweise eine kleine Gruppe) die breiten Massen in die Richtung der Revolution lenken, so wäre das sehr gut. In allen Krisen können die Massen nicht unmittelbar in Aktion treten, die Massen bedürfen der Hilfe der kleinen Gruppen der zentralen Parteikörperschaften. Schon seit den ersten Tagen dieses Krieges, seit September 1914, schärfte unser Zentralkomitee den Massen ein, daß sie der Lüge vom „Verteidigungskrieg" kein Gehör schenken dürfen und daß sie mit den Opportunisten und den „Jingo-Pseudosozialisten"5 (so nennen wir die „Sozialisten", die gegenwärtig für den Verteidigungskrieg eintreten) brechen müssen. Wir glauben, daß diese zentralistischen Maßnahmen unseres Zentralkomitees nützlich und notwendig waren.

Wir sind mit Ihnen einer Meinung, daß wir gegen Berufsverbände und für Industrieverbände, d.h. für große zentralisierte Gewerkschaften, und für die aktivste Teilnahme aller Parteimitglieder an allen ökonomischen <434> Kämpfen und an allen gewerkschaftlichen und genossenschaftlichen Organisationen der Arbeiterklasse sein müssen. Leute aber wie die Herren Legien in Deutschland und Gompers in den USA halten wir für Bourgeois, und ihre Politik ist in unseren Augen keine sozialistische, sondern eine nationalistische, bürgerliche Politik. Die Herren Legien, Gompers und ihresgleichen sind nicht Vertreter der Arbeiterklasse; sie vertreten lediglich die Aristokratie und Bürokratie der Arbeiterklasse.

Ihre Forderung nach „Massenaktionen" der Arbeiter bei politischen Aktionen hat unsere volle Sympathie. Die deutschen revolutionären und internationalistischen Sozialisten fordern das gleichfalls. In unserer Presse suchen wir genauer zu bestimmen, was man konkret unter solchen politischen Massenaktionen zu verstehen hat, wie es z. B. die (in Rußland weitverbreiteten) politischen Streiks, die Straßendemonstrationen und der Bürgerkrieg sind, der durch den gegenwärtigen imperialistischen Krieg zwischen den Völkern vorbereitet wird.

Wir propagieren nicht die Einheit innerhalb der jetzigen (in der zweiten Internationale überwiegenden) sozialistischen Parteien. Wir bestehen im Gegenteil auf dem Bruch mit den Opportunisten. Der Krieg ist der beste Anschauungsunterricht. In allen Ländern sind die Opportunisten, ihre Führer, ihre einflußreichsten Zeitungen und Zeitschriften für den Krieg, anders ausgedrückt, sie haben sich wirklich mit „ihrer" nationalen Bourgeoisie (der Mittelklasse, den Kapitalisten) gegen die proletarischen Massen vereinigt. Sie sprechen davon, daß es auch in Amerika Sozialisten gibt, die für die Teilnahme an einem Verteidigungskrieg eintreten. Wir sind überzeugt, daß ein Bündnis mit solchen Leuten ein Verbrechen ist. Ein solches Bündnis ist ein Bündnis mit der nationalen Bourgeoisie und den Kapitalisten, und es bedeutet den Bruch mit der internationalen revolutionären Arbeiterklasse. Wir aber sind für den Bruch mit den nationalistischen Opportunisten und für die Einheit mit den internationalen revolutionären Marxisten und Arbeiterparteien.

Wir haben in unserer Presse niemals Einwände erhoben gegen die Vereinigung der SP und SLP3 in Amerika. Wir berufen uns immer auf die Briefe von Marx und Engels (besonders an Sorge, der ein aktives Mitglied der amerikanischen sozialistischen Bewegung war), in denen beide den sektiererischen Charakter der SLP verurteilen4.

Wir sind mit Ihrer Kritik an der alten Internationale vollkommen ein-<435>verstanden. Wir haben an der Zimmerwalder Konferenz (in der Schweiz) vom 5.-8. IX. 1915 teilgenommen. Wir haben dort den linken Flügel gebildet und unsere Resolution sowie unseren Entwurf eines Manifests vorgeschlagen. Wir haben diese Dokumente eben erst in deutscher Sprache veröffentlicht, und ich übersende sie Ihnen (mitsamt der deutschen Übersetzung unserer Broschüre „Sozialismus und Krieg") in der Hoffnung, daß es in Ihrer Liga sicher Genossen gibt, die mit der deutschen Sprache vertraut sind. Wenn Sie uns behilflich sein könnten, diese Sachen in englischer Sprache herauszugeben (das ist nur in Amerika möglich, später würden wir sie dann nach England schicken), so nähmen wir Ihre Hilfe gern in Anspruch.

In unserem Kampf für wahren Internationalismus und gegen „Jingo-Sozialismus" verweisen wir in unserer Presse stets auf die opportunistischen Führer der SP in Amerika, die dafür eintreten, daß die Einwanderung chinesischer und japanischer Arbeiter beschränkt wird (besonders nach dem Stuttgarter Kongreß von 1907 und entgegen seinen Beschlüssen). Wir denken, daß niemand Internationalist sein und zugleich für derartige Beschränkungen eintreten kann. Und wir behaupten, daß Sozialisten in Amerika, besonders englische Sozialisten, die der herrschenden, also einer unterdrückenden Nation angehören, wenn sie sich nicht gegen jedwede Einwanderungsbeschränkung und gegen die Besitzergreifung von Kolonien (Hawaii-Inseln) wenden, wenn sie nicht für die volle Unabhängigkeit der letzteren eintreten - daß solche Sozialisten in Wirklichkeit „Jingos" sind.

Zum Schluß wiederhole ich noch einmal die besten Grüße und Wünsche für Ihre Liga. Wir wären sehr froh, auch weiterhin von Ihnen Informationen zu erhalten und unseren Kampf gegen den Opportunismus und für den wahren Internationalismus mit Ihnen vereint zu führen.

Ihr N. Lenin

NB: In Rußland gibt es zwei sozialdemokratische Parteien. Unsere Partei („Zentralkomitee") ist gegen den Opportunismus. Die andere Partei („Organisationskomitee") ist opportunistisch. Wir sind gegen die Einheit mit ihr.

<436Sie können an unsere offizielle Adresse schreiben (Russische Bibliothek; für das ZK – 7, rue Hugo de Senger, Genf, Schweiz). Schreiben Sie aber lieber an meine Privatadresse: Wl. Uljanow, Seidenweg 4a III, Bern, Schweiz.

1  Die Socialist Propaganda League of America wurde 1915 als Vereinigung von linken Mitgliedern der Socialist Party of America gegründet, und ist der direkte Vorläufer des linken Flügels der SPA, aus dem die Kommunistische Partei der USA hervorging. Mehr über die SPLA in der englisch-sprachigen Wikipedia.

2  Tim Davenport, Autor einer Geschichte der SPLA, zweifelt die Datierung dieses Briefes an. Siehe den Anhang zu dem englischen Original des Briefes bei unseren Kollegen vom Marxist Internet Archive (MIA)

3  Die Socialist Labor Party (SLP) wurde 1876 als Workingmen's Party of the United States (WPUS) gegründet und änderte im nächsten Jahr ihren Namen zu SLP, unter dem sie heute noch existiert. Die Socialist Party wurde 1901 als Zusammenschluß der drei Jahre zuvor von Gewerkschaftlern gegründeten Social Democratic Party of America und ehemaligen Mitgliedern der SLP gegründet. Einer der führenden Vertreter der SP, Eugene V. Debs, kandidierte vier mal bei den Präsidentschaftswahlen - 1900, 1904, 1908, 1912 und – aus dem Gefängnis heraus – 1920. 1972 änderte die SP ihren Namen in Social Democrats, USA, und spaltete sich 1973 auf in das Democratic Socialist Organizing Committee und Socialist Party USA.

4  Die Redaktion der Marx Engels Werke führ dazu beispielhaft an die Briefe von Friedrich Engels vom 29.4.1886 an Friedrich Adolph Sorge in Hoboken (MEW36 S. 476ff), vom 28.12.1886 an Florence Kelley-Wischnewetzky in New York (MEW36 S.588ff), vom 7.12.1889 an Sorge (MEW37 S.320ff), und vom 11.1.1890 an Hermann Schlüter in New York (MEW37 S. 340ff)

5  Jingoism - englisch für einen arroganten Hurrah-Patriotismus