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Über den Nationalstolz der Großrussen

Wladimir Iljitsch Lenin

12. Dezember 1914

Seitenzahlen in diesem Text beziehen sich auf die Veröffentlichung in Lenin Werke, Band 21.
Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Dietz-Verlag Berlin, 1977. S. 91-95

Wieviel wird jetzt über Nationalität und Vaterland geredet, gedeutelt, geschrien! Liberale und radikale Minister Englands, eine Unmenge „fortschrittlicher" Publizisten Frankreichs (die mit den reaktionären Publizisten ganz einer Meinung sind), eine Unmasse amtlicher, kadettischer und progressiver Federfuchser Rußlands (manche Volkstümler und „Marxisten" eingeschlossen) - sie alle lobpreisen auf tausenderlei Art die Freiheit und Unabhängigkeit der „Heimat", die Erhabenheit des Prinzips nationaler Selbständigkeit. Man weiß nicht, wo man den Grenzstrich ziehen soll zwischen dem käuflichen Barden des Henkers Nikolaus Romanow oder der Schinder von Negern und Indem und dem Durchschnittsspießer, der aus Stumpfsinn oder Charakterlosigkeit „mit dem Strom" schwimmt. Es hat auch keinen Sinn, hier Unterschiede zu machen. Wir haben es mit einer sehr breiten und tiefen geistigen Strömung zu tun, deren Wurzeln mit den Interessen der Herren Gutsbesitzer und Kapitalisten der Großmachtnationen sehr fest verwachsen sind. Für die Propaganda der Ideen, die für diese Klassen von Vorteil sind, werden jährlich Millionen und aber Millionen ausgegeben: Es ist eine gewaltige Mühle, die ihr Wasser von überallher nimmt, von dem überzeugten Chauvinisten Menschikow bis zu den Chauvinisten aus Opportunismus oder aus Charakterlosigkeit, den Plechanow und Maslow, Rubanowitsch und Smirnow, Kropotkin und Burzew.

Auch wir großrussischen Sozialdemokraten wollen versuchen, unsere Stellung zu dieser geistigen Strömung festzulegen. Uns, den Vertretern der Großmachtnation im äußersten Osten Europas und in weiten Teilen Asiens, würde es nicht geziemen, die ungeheure Bedeutung der nationalen <92> Frage zu vergessen; besonders in einem Lande, das man mit Recht ein „Völkergefängnis" nennt; zu einer Zeit, da gerade im äußersten Osten Europas und in Asien der Kapitalismus eine ganze Reihe von „neuen", großen und kleinen Nationen zum Leben und zum Bewußtsein erweckt; in einem Moment, da die Zarenmonarchie Millionen von Großrussen und Nichtrussen unter die Waffen gerufen hat, um eine ganze Reihe von nationalen Fragen entsprechend den Interessen des Rates des vereinigten Adels und der Gutschkow, Krestownikow, Dolgorukow, Kutler und Roditschew „zu lösen".

Ist uns großrussischen klassenbewußten Proletariern das Gefühl des nationalen Stolzes fremd? Gewiß nicht! Wir lieben unsere Sprache und unsere Heimat, wir wirken am meisten dafür, daß ihre werktätigen Massen (d.h. neun Zehntel ihrer Bevölkerung) zum bewußten Leben erhoben werden, daß sie Demokraten und Sozialisten werden. Es schmerzt uns am meisten, zu sehen und zu fühlen, welchen Gewalttaten, welcher Unterdrückung und welchen Schmähungen die Zarenschergen, Gutsbesitzer und Kapitalisten unsere schöne Heimat unterwerfen. Wir sind stolz darauf, daß diese Gewalttaten Widerstand in unserer Mitte, im Lager der Großrussen hervorgerufen haben, daß aus diesem Lager Radischtschew, die Dekabristen, die Rasnotschinzen–Revolutionäre der siebziger Jahre hervorgegangen sind, daß die großrussische Arbeiterklasse im Jahre 1905 eine mächtige revolutionäre Massenpartei geschaffen, daß der großrussische Bauer zur selben Zeit Demokrat zu werden und den Popen und den Gutsbesitzer davonzujagen begonnen hat.

Wir haben nicht vergessen, daß vor einem halben Jahrhundert der großrussische Demokrat Tschernyschewski, der sein Leben der Sache der Revolution hingab, gesagt hat: „Eine erbärmliche Nation, eine Nation von Sklaven, von oben bis unten - alles Sklaven."{43} Die offenen und versteckten großrussischen Sklaven (Sklaven im Verhältnis zur Zarenmonarchie) werden nicht gern an diese Worte erinnert. Aber nach unserer Meinung waren das Worte wahrer Heimatliebe, einer Liebe, die unter dem Mangel an revolutionärem Geist bei den Massen der großrussischen Bevölkerung litt. Damals gab es diesen revolutionären Geist <93>nicht. Jetzt ist er, obwohl in geringem Maße, doch schon vorhanden. Wir sind erfüllt vom Gefühl nationalen Stolzes, denn die großrussische Nation hat gleichfalls eine revolutionäre Klasse hervorgebracht, hat gleichfalls bewiesen, daß sie imstande ist, der Menschheit große Vorbilder des Kampfes für die Freiheit und den Sozialismus zu geben und nicht nur große Pogrome, Galgenreihen und Folterkammern, große Hungersnöte und große Kriecherei vor den Popen, den Zaren, den Gutsbesitzern und Kapitalisten.

Wir sind erfüllt vom Gefühl nationalen Stolzes, und gerade deshalb hassen wir ganz besonders unsere sklavische Vergangenheit (in der adlige Gutsbesitzer die Bauern in den Krieg führten, um die Freiheit Ungarns, Polens, Persiens und Chinas zu meucheln) und unsere sklavische Gegenwart, in der dieselben Gutsbesitzer, unterstützt von den Kapitalisten, uns in den Krieg führen, um Polen und die Ukraine zu erdrosseln, um die demokratische Bewegung in Persien und China zu ersticken und um die Bande der Romanow, Bobrinski und Purischkewitsch zu stärken, die unsere großrussische nationale Würde schänden. Niemand ist schuld daran, daß er als Sklave geboren wurde; aber ein Sklave, dem nicht nur alle Freiheitsbestrebungen fremd sind, sondern der seine Sklaverei noch rechtfertigt und beschönigt (der beispielsweise die Erdrosselung Polens, der Ukraine usw. als „Vaterlandsverteidigung" der Großrussen bezeichnet) - ein solcher Sklave ist ein Lump und ein Schuft, der ein berechtigtes Gefühl der Empörung, der Verachtung und des Ekels hervorruft.

„Ein Volk, das andre unterdrückt, kann sich nicht selbst emanzipieren“1, so sprachen die größten Vertreter der konsequenten Demokratie des 19. Jahrhunderts, Marx und Engels, die die Lehrer des revolutionären Proletariats geworden sind. Und wir großrussischen Arbeiter, die wir vom Gefühl nationalen Stolzes erfüllt sind, wollen um jeden Preis ein freies und unabhängiges, ein selbständiges, demokratisches, republikanisches, stolzes Großrußland, das seine Beziehungen zu den Nachbarn auf dem menschlichen Prinzip der Gleichheit aufbaut und nicht auf dem eine große Nation entwürdigenden fronherrlichen Prinzip der Privilegien. Gerade weil wir ein solches Großrußland wollen, sagen wir: Man kann im 20. Jahrhundert und in Europa (sei es auch im fernen Osteuropa) nur dadurch das „Vaterland verteidigen", daß man mit allen <94> revolutionären Mitteln gegen die Monarchie, die Gutsbesitzer und Kapitalisten des eigenen Vaterlandes, d. h. gegen die schlimmsten Feinde unserer Heimat kämpft; die Großrussen können nur dadurch das „Vaterland verteidigen", daß sie in jedem Kriege die Niederlage des Zarismus herbeiwünschen – als das kleinere Übel für neun Zehntel der Bevölkerung Großrußlands; denn der Zarismus unterdrückt nicht nur diese neun Zehntel der Bevölkerung ökonomisch und politisch, er demoralisiert, erniedrigt, entehrt und prostituiert sie auch, indem er sie daran gewöhnt, fremde Völker zu unterdrücken und ihre Schmach mit heuchlerischen, angeblich patriotischen Phrasen zu bemänteln.

Man wird uns vielleicht entgegnen, daß neben dem Zarismus und unter seinen Fittichen bereits eine andere historische Macht entstanden und erstarkt ist - der großrussische Kapitalismus, der fortschrittliche Arbeit leistet, indem er gewaltige Gebiete ökonomisch zentralisiert und zusammenkittet. Ein solcher Einwand bedeutet jedoch keine Rechtfertigung, sondern eine noch stärkere Beschuldigung unserer chauvinistischen Sozialisten, die man zaristische Purischkewitsch-Sozialisten nennen müßte (wie Marx die Lassalleaner „königlich preußische Sozialisten" genannt hat). Nehmen wir sogar an, daß die Geschichte die Frage zugunsten des großrussischen Großmachtkapitalismus gegen hundert kleine Nationen entscheiden würde. Das ist nicht unmöglich, denn die ganze Geschichte des Kapitals ist eine Geschichte von Gewalttaten und Plünderung, von Blut und Schmutz. Auch sind wir keineswegs unbedingt Anhänger kleiner Nationen; wir sind, bei sonst gleichen Bedingungen, unbedingt für die Zentralisation und gegen das kleinbürgerliche Ideal föderativer Beziehungen. Doch selbst in einem solchen Fall ist es erstens nicht unsere Sache, nicht Sache der Demokraten (geschweige denn der Sozialisten), den Romanow-Bobrinski-Purischkewitsch bei der Erdrosselung der Ukraine usw. zu helfen. Bismarck hat auf seine Art, auf Junkerart, ein historisch fortschrittliches Werk vollbracht; aber der wäre ein schöner „Marxist", der auf Grund dessen eine Unterstützung Bismarcks durch Sozialisten zu rechtfertigen gedächte! Dabei förderte Bismarck die ökonomische Entwicklung, indem er das zersplitterte Deutschland, das von anderen Völkern unterdrückt wurde, einigte. Der ökonomische Aufschwung und die rasche Entwicklung Großrußlands aber erfordern die Befreiung des Landes von der Vergewaltigung anderer Völker durch die Großrussen - <95diesen Unterschied vergessen unsere Verehrer der echt-russischen Quasi-Bismarcks.

Wenn die Geschichte die Frage zugunsten des großrussischen Großmachtkapitalismus entscheiden wird, so folgt daraus zweitens, daß die sozialistische Rolle des großrussischen Proletariats, als der Haupttriebkraft der kommunistischen Revolution, die der Kapitalismus erzeugt, um so größer sein wird. Für die Revolution des Proletariats bedarf es aber einer langwierigen Erziehung der Arbeiter im Geiste der vollsten nationalen Gleichheit und Brüderlichkeit. Also ist gerade vom Standpunkt der Interessen des großrussischen Proletariats eine langwierige Erziehung der Massen im Sinne des entschlossensten, konsequentesten, kühnsten und revolutionärsten Eintretens für die volle Gleichberechtigung und das Selbstbestimmungsrecht aller von den Großrussen unterdrückten Nationen erforderlich. Das Interesse des (nicht knechtisch aufgefaßten) Nationalstolzes der Großrussen fällt zusammen mit dem sozialistischen Interesse der großrussischen (und aller übrigen) Proletarier. Unser Vorbild wird Marx bleiben, der, nach jahrzehntelangem Leben in England ein halber Engländer geworden, die Freiheit und nationale Unabhängigkeit Irlands im Interesse der sozialistischen Bewegung der englischen Arbeiter forderte.

Unsere hausbackenen sozialistischen Chauvinisten aber, Plechanow und wie sie alle heißen, werden sich in dem zuletzt betrachteten, von uns angenommenen Fall als Verräter nicht nur an ihrer Heimat, dem freien und demokratischen Großrußland, erweisen, sondern auch an der proletarischen Verbrüderung aller Völker Rußlands, d.h. an der Sache des Sozialismus.

„Sozial-Demokrat“ Nr. 35, 12. Dezember 1914.

Nach dem Text des „Sozial-Demokrat"

1  Dieser Satz wurde von Marx und Engels mehrfach in verschiedensten Formulierungen gebraucht. Hier zitiert nach dem Artikel „Eine polnische Proklamation“ vom Juni 1874 in Friedrich Engels' Artikelreihe „Flüchtlingsliteratur“. Abgedruckt in MEW 18, S. 521-527.