Finis Poloniæ?

Von Karl Kautsky.

I. Die Polen, die Revolution, der Panslavismus.

Die Neue Zeit, 14. Jahrgang (1896), 2. Band, Nr. , S. 484-491

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Die von Kautsky praktizierte Schreibung wurde unverändert beibehalten; Nach dem Versuch, mit amtlicher Hilfe, die deutsche Sprache nach erfundenen Regeln umzumodeln, besteht kein Grund mehr, sich an irgendwelche Vorgaben zu halten. Auch wurden durch Sperrung hervorgehobene Textstellen weiterhin durch Sperrung hervorgehoben anstatt stattdessen Kursivschrift einzusetzen.

Lenin bezieht sich in seinem 1903 geschriebenen und veröffentlichten Artikel über Die nationale Frage in unserem Programm positiv auf diese Ausführungen von Karl Kautsky.

484>An der Wiege der "Internationale" stand die polnische Frage. 1863 brach in Russisch–Polen die letzte Insurrektion aus. Die Arbeiter Westeuropas wurden dadurch aufs Tiefste erregt, und ihr Eintreten für die Unabhängigkeit Polens war die erste Aktion, in der die Proletarier aller Länder seit der Revolution von 1848 sich zu gemeinsamem Wirken zusammenfanden. In London wurden 1863 und 1864 große Meetings zu Gunsten der Polen abgehalten, auf denen Redner der verschiedensten Nationen sprachen. Zu manchen derselben sandten die Pariser Arbeiter eigene Delegirte. So entwickelte sich ein internationales Zusammen­wirken, das schließlich auf dem großen Polenmeeting in St. Martins Hall am 28. September 1864 zu der Gründung einer internationalen Organisation führte.1

Diese enge Verbindung des Kampfes um ein unabhängiges Polen mit der Entstehung der internationalen Arbeiterassoziation ist kein Zufall. Seit der großen französischen Revolution war die Frage der Selbständigkeit Polens für die revolutionären Parteien aller Länder Europas von größter Bedeutung; sie war unter den internationalen politischen Aufgaben der europäischen Revolution die wichtigste.

Das wird leicht begreiflich angesichts der Bedeutung, die Rußland für die europäische Revolution erlangt hatte. War Frankreich das Land der Revolution par excellence, das Land, das die Freiheit den übrigen Völkern zu bringen <485>hatte, so war Rußland der Hort der Reaktion in ganz Europa. Die Revolution konnte in Europa nicht dauernd siegen, so lange das Zarenthum ungebrochen dastand. Die Feinde des Zaren waren die natürlichen Verbündeten der euro­päischen Revolution. War die Herrschaft des Zarenthums eine internationale Gefahr für die Demokratie und die Zivilisation Europas, so war die Unterstützung seiner Gegner die internationale Pflicht der gesammten europäischen Demokratie.

Zwei Punkte waren es, die Rußland für die europäische Demokratie gefährlich machten: der völlige Mangel einer revolutionären Klasse in seinem Innern und sein Ausdehnungsbestreben in der Richtung nach Westen und Süden.2 Die erstere Eigenthümlichkeit brachte Rußland in die angenehme Position, der einzige europäische Staat zu sein, der während einer europäischen Revolution im Innern völlig ruhig blieb, so daß er alle seine Kräfte nach außen entfalten und die Wage zu Ungunsten der Revolution wenden konnte. Sein Ausdehnungs­bedürfniß aber drohte einen immer größeren Theil Europas in ständige Unter­jochung unter seine eiserne, jegliche Freiheit erwürgende Faust zu bringen und das Gebiet der politischen Freiheit immer mehr einzuengen.

Neben dem politischen Drange jeder absoluten Monarchie, sich auszudehnen, ihr Macht- und Ausbeutungsbereich zu vermehren, wirkte in Rußland auch der kommerzielle Drang, sich Konstantinopels zu bemächtigen, der Beherrscherin des östlichen Mittelmeerbeckens und einiger der wichtigsten Handelswege nach dem Orient. Die Herrschaft über Konstantinopel setzte aber die Zertrümmerung Öster­reichs und der Türkei und die Annektirung eines großen Theiles ihrer Gebiete voraus.

Bei diesem Drange nach Eroberungen in Österreich und der Türkei fand das Zarenthum einen mächtigen Verbündeten im Panslavismus3. In der Zeit, die hier vornehmlich in Frage kommt, den vierziger, fünfziger und sechziger Jahren unseres Jahrhunderts, waren die Slaven Österreichs und gar die der Türkei kaum noch beleckt von der modernen Kultur, politisch unselbständig, entweder ganz regungslos oder entschieden reaktionär. Man durfte also erwarten, sie leicht in das Gefüge des russischen Reiches einfügen zu können, ohne diesem ein gefähr­liches Element der Bewegung zuzuführen. Sie zu gewinnen, wurde eine Haupt­aufgabe der auswärtigen Politik des Zarenthums. Es überschwemmte die slavi­schen Gebiete Österreichs und der Türkei mit seinen Agenten und adaptirte im Panslavismus das westeuropäische Nationalitätenprinzip seinen Bedürfnissen, um dadurch die intelligenteren Theile der nichtrussischen Slaven zu ködern. Politisch ganz naiv, glaubten diese um so eher den Verheißungen der russischen Agenten, je härter der ökonomische und politische Druck des Habsburgischen und osmanischen Absolutismus auf ihnen lastete.

Der Panslavismus, der das ganze Slaventhum Europas Rußland botmäßig machte und dessen Gebiet enorm zu vermehren drohte, wurde ein gefährlicher Feind der westeuropäischen Demokratie, trotz der demokratischen Allüren und Illusionen, die er mitunter annahm. Dies gab ihr ein Interesse an der Erhaltung des türkischen Reiches; dies drängte sie aber auch, für die Wiederherstellung Polens als eines <486> Bollwerks gegen die russischen Expansionsgelüste einzutreten, denn die Polen erwiesen sich als die einzige slawische Nation, die dem Panslavismus unzugänglich blieb, die ihm vielmehr entschieden feindlich gegenüberstand.

Die Gefährlichkeit des Panslavismus war jedoch nicht der einzige Grund, der die Wiederherstellung Polens zu einer dringenden gemeinsamen Angelegenheit aller freiheitlich gesinnten Elemente Europas machte.

Einen zweiten haben wir bereits oben angedeutet. Wir wollen ihn nun etwas eingehender betrachten.

Innerhalb des russischen Riesenreichs lag alles willenlos, bewegungslos dem Zaren zu Füßen; es gab dort nur ein Element des Widerstandes und der Bewegung: die Polen. Aber wenn man genauer zusah, galt dies nicht einmal von den gesammten Polen. Das Element der Unruhe in Polen war der Adel, namentlich der niedere Adel, nebst einigen Schichten des städtischen Kleinbürger­thums und der Intelligenz, die sich großentheils aus dem kleinen Adel rekrutirte und völlig unter dem Einfluß seines Ideengangs stand. Diese nichtadeligen Schichten waren für den Charakter der polnischen revolutionären Bewegungen so wenig maßgebend, daß wir hier von ihnen absehen können.

In keinem Theile Europas hat der niedere Adel in der neueren Zeit eine solche Rolle gespielt, wie in Polen, dank der Hemmung der ökonomischen Ent­wicklung, die Polen ebenso wie Deutschland und Italien durch das Vordringen der Türken, die Verlegung der Handelswege nach dem Orient und die Entdeckung Amerikas erfuhr. Hier wie dort waren die Folgen die gleichen: innere Zer­rissenheit, Verwandlung des Landes in einen ständigen Kriegsschauplatz, Abhängig­keit vom Ausland. Aber nirgends wirkten diese Umstände so verheerend wie in Polen. Von den genannten Ländern war es das rückständigste, als die große ökonomische Revolution eintrat, die das Regime des Kapitalismus einleitete; die Ostsee wurde durch die Veränderung der alten Handelswege weit schwerer getroffen, als das Mittelmeer; die Nordsee gewann sogar dadurch. Und der fremde Ein­fluß, der Deutschland seit dem dreißigjährigen Kriege beherrschte, war der Frank­reichs, eines damals kulturell höher entwickelten Landes, das Deutschland manche fruchtbare Anregung brachte; Polens Nachbar dagegen, dem es unterlag, war Rußland, eine orientalische Despotie, die dem Westen nur seine Herrschaftsmittel, Armee und Bureaukratie entlehnte, um ihrer Barbarei eine unerhörte Kraft zu verleihen, ohne an ihren Grundlagen etwas zu ändern. Die Vorherrschaft dieses Staates konnte nicht anders wirken, als degradirend.

Während daher Deutschland am Ende des siebzehnten Jahrhunderts, wenn auch nur langsam und mühevoll, anfängt, der ökonomischen und politischen Entwicklung Westeuropas nachzuhinken, geht Polen seit dem siebzehnten Jahrhundert rapid abwärts. Deutschland gelangt im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert nicht zur Bildung eines geschlossenen Nationalstaats, aber es gelingt in dieser Zeit wenigstens den Häuptern des hohen Adels, mehr oder weniger ausgedehnte souveräne Fürstenthümer zu errichten, die absolutistisch regiert werden, in denen der Bürger und Bauer bis zu einem gewissen Grade geschützt, der niedere Adel der Staatsgewalt botmäßig gemacht wird. In Polen wird die Reichsgewalt ein Schatten, ohne daß es dem hohen Adel gelänge, Kleinstaaten im Reiche zu schaffen; das städtische Bürgerthum verfällt gänzlich und der niedere Adel weiß seine politischen Befugnisse zu wahren.

Aber mit dem gesammten Lande, und schneller noch als dieses, verkommt auch er ökonomisch, und sein Ruin flößt ihm stete und unstillbare Unzufriedenheit ein. Jedoch ungleich anderen verkommenden Klassen ist er wehrhaft und mit dem <487> Waffenhandwerk wohl vertraut. So wird seine Unzufriedenheit unter einer schwachen Staatsgewalt zu einer Quelle ununterbrochener Unruhen und Bürgerkriege, die das Land vollends entkräften und schließlich zur Beute der Nachbarn machen.

Aber derselbe Faktor, der Polens Schwäche gegenüber Rußland bewirkt hatte, wurde zu einem Element der Schwäche Rußlands, sobald dieses sich des größten Theiles Polens bemächtigt. Polen blieb ein Land der Unruhen und der Bürgerkriege, und war die russische Staatsgewalt stark genug, in normalen Zeiten Ausbrüche des Mißvergnügens niederzuhalten, so waren die Explosionen um so heftiger, wenn irgend eine Gelegenheit den lange unterdrückten Groll zur That entflammte.

Diese ständige Kriegsbereitschaft des polnischen Kleinadels gegenüber der Zarenherrschaft hätte allein schon genügt, ihn zum natürlichen Bundesgenossen der westeuropäischen Demokratie zu machen. Das Bündniß dieser beiden Elemente wurde aber durch einen anderen Umstand noch sehr verstärkt. Je mehr der pol­nische Adel ökonomisch verkam, so daß ihm als einziges Mittel des Erwerbs sein Schwert blieb, desto mehr drängte es ihn fort aus der Heimath, seitdem dort seinem Thatendrang so enge Schranken gesetzt waren. Dazu kam, daß jede niedergeschlagene Erhebung zahlreiche Schaaren von Emigranten, gerade die wage­lustigsten und wehrhaftesten der Polen, ins Ausland trieb. So sehen wir denn, daß, ähnlich wie im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert der verkommende deutsche Ritter in aller Herren Länder als Landsknecht zu finden ist, seit der Theilung Polens in den verschiedensten Ländern bei jeder bewaffneten Unter­nehmung, in der für Freiwillige Raum ist, also vor allem bei jeder revolutio­nären Erhebung, Polen betheiligt sind.

Das war von großer Bedeutung, so lange die revolutionären Entscheidungen im Kampfe der Waffen, namentlich im Straßenkampf, entschieden wurden. Die moderne Kriegführung ist ein Gewerbe, das gelernt sein will, und das rein theoretisch nicht gelernt werden kann. Die Schichten, aus denen die Kämpfer in den revolutionären Erhebungen unseres Jahrhunderts sich rekrutirten, Kleinbürger, Bauern und namentlich Proletarier, waren mit der Kriegführung nicht vertraut, wenigstens nicht dort, wo die allgemeine Wehrpflicht nicht herrschte, sie waren überall der Truppenführung völlig unkundig. Auf der anderen Seite ist der Adel diejenige Klasse, die ihrer ganzen Erziehung und sozialen Stellung nach mit dem Kriegswesen und den Aufgaben der Truppenführung am leichtesten sich vertraut macht und von vornherein am meisten vertraut ist. Aber gerade diese Klasse stand in allen revolutionären Kämpfen auf Seite der Gegner der Revolution. Nur der polnische niedere Adel machte eine Ausnahme von dieser Regel, dank seiner besonderen Stellung — einmal, 1848, auch der ungarische. Die Polen waren daher das Offizierskorps jeder europäischen Revolution, sie haben ihr die besten Generale geliefert. Nicht nur in den Erhebungen gegen den zarischen Despo­tismus, nein, auf allen Schlachtfeldern der Revolution in Europa haben die Polen ihr Bündniß mit der Demokratie besiegelt.

Sicher war viel Glücksritterthum dabei im Spiele; zum großen Theil aber auch eine ehrliche demokratische Überzeugung.

Gleich dem Kleinbürger nimmt auch der kleine Adelige eine Zwitterstellung ein. Wie dieser nicht ganz Proletarier ist und nicht ganz Kapitalist und je nach den Verhältnissen bald mehr als der eine, bald mehr als der andere sich fühlt, so bildet der niedere Adel dort, wo er finanziell ruinirt ist, ein Zwischenglied zwischen den Privilegirten und dem Volk und neigt bald auf diese, bald auf jene Seite. Sein Rang in der Gesellschaft macht ihn zum Verfechter der Privilegien, <488> zum Aristokraten und Konservativen; aber seine unbefriedigende ökonomische Lage wirkt mitunter in entgegengesetzter Richtung. Wo die Staatsgewalt ihn ökonomisch stützt und ihm ein Parasitendasein ermöglicht, wird er freilich zum Preisfechter des staatlichen Absolutismus. Aber wo die Staatsgewalt ihn sich selbst über­läßt oder gar ihm hinderlich in den Weg tritt, da schlägt er sich auf die Seite des Volkes, wird ein Revolutionär und ein Vorkämpfer der Demokratie.

Die soziale Stellung des niederen Adeligen ist gleich der des Kleinbürgers voll von Widersprüchen. Aber viel selbständiger und selbstbewußter als dieser, entwickelt er die Widersprüche seiner Stellung in viel höherem Maße, liefert er die klassischsten Figuren für den Romantiker wie für den Satiriker. Derselben Zeit und derselben Schicht, der Ulrich von Hutten und Florian Geyer entstammen, entsprossen die Vorbilder Falstaffs und Don Quixotes; und die polnischen Frei­heitshelden von Kosciusko bis Dombrowski sind auf demselben Stamme gewachsen, wie Krapülinski und Waschlapski.

Diesem widerspruchsvollen Charakter des niederen Adels entsprach auch der Charakter seiner Erhebungen in Polen. Man hat viel darüber gestritten, ob sie — namentlich die letzte von 1863/64 — aristokratische oder demokratische Ten­denzen verfolgt hätten. Thatsächlich verfolgten sie beide; je nach der Sachlage traten bald die einen, bald die anderen mehr in den Vordergrund.

In Westeuropa konnte aber der polnische Revolutionär nur die demokratische Seite seines Wesens entwickeln. In dem Milieu, auf das er dort angewiesen war, fand die aristokratische Seite keinen Boden.

Wenn man alle diese Umstände in Erwägung zieht, dann begreift man es, daß das Bündniß der revolutionären Parteien Europas mit den Resten des pol­nischen Feudalismus um so inniger wurde, je heißer der Kampf der Revolution gegen die Reste des Feudalismus in Westeuropa entbrannte, und daß das Ein­treten für die Unabhängigkeit Polens eine der vornehmsten internationalen Pflichten der Revolutionsparteien Europas wurde, die das Proletariat von der bürgerlichen Demokratie übernahm. Die Väter des kommunistischen Manifests und der Inter­nationale gehorchten nur einer historischen Nothwendigkeit, wenn auch sie die Unabhängigkeit Polens auf ihre Fahne schrieben.

Seitdem die Internationale sich in diesem Sinne ausgesprochen, ist ein Menschenalter verflossen; die alte Internationale ist dahingegangen und eine neue ist erstanden. Wie an jene, ergeht nun an diese die Aufforderung, ein Votum zu Gunsten der Unabhängigkeit Polens abzugeben.

Da tritt etwas Unerwartetes ein: ein Widerspruch aus den Reihen der polnischen Sozialdemokratie wird dagegen laut; Polen protestiren dagegen, daß das internationale Proletariat die Forderung der Befreiung Polens erhebt.

Unsere Leser kennen die Argumentationen dieser protestirenden Polen, als deren Wortführerin Frl. Luxemburg in vorliegender Zeitschrift zweimal zum Worte gekommen ist4. Sie weist mit großer Entschiedenheit darauf hin, daß die inter­nationale Stellung Polens, wie auch feine inneren Verhältnisse heute ganz anders liegen, als noch zur Zeit der ersten Internationale, und daß die Sozialdemokratie ihre Haltung in der polnischen Frage nicht nach ihren Traditionen, sondern nach den Thatsachen der Gegenwart einzurichten habe.

Werfen wir einen Blick auf diese Thatsachen, so müssen wir allerdings gestehen, daß die Situation Polens eine gänzlich veränderte ist.

Schon dadurch mußte die Bedeutung der Polen für die europäischen demo­kratischen und revolutionären Bewegungen abnehmen, daß deren Entscheidungen nicht mehr mit bewaffneter Hand ausgefochten werden. Seit der Gründung der <489>ersten Internationale haben das allgemeine Wahlrecht, Koalitionsfreiheit, Preß– und Versammlungsfreiheit überall in Westeuropa ihren Einzug gehalten und die Formen des politischen Kampfes gänzlich verändert. Die Mieroslawski, Bem, Dombrowski fänden heute kein Feld für ihre Feldherrnthätigkeit in den Reihen der Demokratie und Sozialdemokratie.

Diese Klasse der polnischen Revolutionäre ist aber gleichzeitig auch gänzlich verschwunden. Die Niederschlagung der Insurrektion von 1863/64 hat ihr den Todesstoß gegeben. Ein Theil des niederen polnischen Adels ist in der Emigration, ein anderer in Sibirien gestorben und verdorben. Der in Russisch–Polen selbst verbleibende Theil des Adels wurde durch den Aufstand und dessen Folgen finan­ziell ruinirt. Die Kraft des Adels in Russisch–Polen ist gebrochen und seine Reste suchen ihren Frieden mit dem Zarenthum zu machen. Sie küssen die Hand, die sie gezüchtigt, und suchen ihr einige Almosen abzubetteln. In Preußisch–Polen nimmt der polnische Junker an den Liebesgaben theil, die das deutsche Junker­thum für sich ergattert, er wird Höfling und Staatspensionär und entwickelt die antidemokratische Seite seines Wesens. Noch mehr ist dies der Fall in Galizien. So wie der Zwiespalt zwischen den beiden Kulturnationen Deutschland und Frank­reich das barbarische Rußland zum Beherrscher Europas macht, so macht der Zwiespalt zwischen .den beiden am meisten entwickelten Nationen Österreichs, den Deutschen und den Tschechen, den barbarischen polnischen Adel zum Beherrscher Österreichs, dessen Staatsgewalt ihm fast unumschränkt zur Verfügung steht. Da sind die demokratischen Allüren des niederen Adels längst zum Teufel gegangen. Die galizischen Schlachzizen würden in ein Hohngelächter ausbrechen, wenn man von ihnen verlangte, sie sollten, wie 1848, für die Rechte des Volkes eintreten. Die Rolle, welche die Polen heute in Österreich spielen, ist das gerade Gegentheil ihrer Rolle im Jahre 1848.

Während so Polen aufgehört hat, das Revolutionsland par excellence zu sein, hat auch die Idee einer Wiederherstellung Polens als Bollwerk des freien Europas gegenüber dem russischen Absolutismus viel von ihrer Bedeutung verloren.

Im Krimkrieg trat es deutlich zu Tage, daß eine moderne Armee und eine moderne Bureaukratie nur zu einer sehr beschränkten Leistungsfähigkeit gebracht werden können und von einem bestimmten Punkte an versagen, wenn ihnen die ökonomischen und politischen Grundlagen eines modernen Staates fehlen. Die Niederlage seiner Armeen und seiner Verwaltung zwang den russischen Absolutis­mus, seinem Lande die Bahn der ökonomischen, ja bis zu einem gewissen Grade sogar der politischen Entwicklung zu eröffnen. Damit führte er aber auch selbst in den Staat neue Elemente der Bewegung ein, die das alte System des orientalischen Despotismus früher oder später über den Haufen werfen müssen. Rußland zeitigt revolutionäre Bewegungen, die zeitweise schon eine höchst bedeutende Kraft erlangt haben und die gegenwärtig in neuem Aufschwung begriffen sind. Eine Revolution in Westeuropa würde heute in Rußland solche revolutionäre Kräfte entfesseln, daß der Zarismus vollauf zu Hause beschäftigt wäre und zur Unterdrückung aus­wärtiger Revolutionen nicht das Geringste beitragen könnte. Petersburg ist heute ein viel wichtigeres revolutionäres Zentrum als Warschau, die russische revolutionäre Bewegung hat bereits eine größere internationale Bedeutung als die polnische.

Aber auch als Bollwerk gegen den Panslavismus kommt Polen wenig mehr in Betracht. Nicht nur, daß, wie schon erwähnt, die Widerstandskraft seines Adels gebrochen ist, der Panslavismus selbst nimmt an Kraft und Gefähr­lichkeit rasch ab.

<490> Wir haben eben der Elemente gedacht, die in Rußland in Bewegung gerathen sind. Aber noch mehr sind die außerrussischen Slaven in Österreich und den Balkanländern während der letzten Jahrzehnte in Bewegung gerathen, nicht zum Wenigsten in Folge der panslavistischen Agitationen selbst, in erster Linie aber in Folge der Umwälzung der ökonomischen und politischen Verhält­nisse, die seit den sechziger Jahren in den genannten Ländern eingetreten ist.

Es war stets ein gefährliches Wagniß für Rußland, sich Länder mit regem politischen Leben, erfüllt oder wenigstens berührt von modernen Anschauungen, einzuverleiben. Jetzt, angesichts der stets anwachsenden Bewegung im eigenen Lande, die ihm über den Kopf zu wachsen droht, muß ihm jede erhebliche Er­weiterung seines europäischen Gebiets als ein höchst bedenkliches Unternehmen erscheinen.

Andererseits muß in den außerrussischen Slaven die Sehnsucht nach der russischen Knute um so platonischer werden, je größer ihre eigenen Freiheiten, je reger ihr politisches Leben. In Österreich ist der Panslavismus kaum noch irgendwo eine Macht. Die Zeiten sind vorbei, wo tschechische, ruthenische und kroatische Deputationen nach Moskau pilgerten, wie 1867, und von dem russischen Zaren fast wie Unterthanen begrüßt wurden.

Auch in den Balkanländern geht es mit der slavischen Solidarität bergab. Wohl sind diese Länder noch das Lieblingsgebiet für russische Intriguen, auch panslavistische Traditionen machen sich noch geltend, Rußland sucht seine einmal dort gewonnene Stellung zu behaupten, aber praktisch ist doch seit einigen Jahren die hervorstechendste Eigenthümlichkeit der russischen Balkanpolitik das Bedürfniß nach Ruhe, nicht mehr, wie ehedem, nach Unruhe.

Jede Einschränkung des sultanischen Despotismus kommt eben nicht mehr dem zarischen Despotismus zu Gute, sondern den Elementen der Bewegung und der Selbständigkeit an den russischen Grenzen. Das Gelingen einer Insurrektion in Mazedonien oder Kreta kann nur die Macht Bulgariens oder Griechenlands stärken, deren Widerstandskraft vermehren und das Gebiet der Ansätze zu einem modernen politischen Leben im Bereich des Slaventhums und der orthodoxen Kirche vergrößern; die Gewährung der Autonomie an das türkische Armenien würde den Armeniern in Rußland ein gefährliches Beispiel geben. Wo dagegen der Sultan unumschränkt herrscht, kann sich kein Element entwickeln, das im Stande wäre, die unumschränkte Herrschaft des Zaren zu gefährden.

Gleichzeitig verliert auch Konstantinopel zusehends an Werth für Rußland. Je mehr die slavischen Gebiete Österreichs und der Türkei ihre Anziehungskraft für den russischen Despotismus verlieren, desto stärker wird sein Trieb, sich nach Osten und Südosten auszudehnen, in Zentralasien und China. Dort findet es Gebiete, deren soziale Verhältnisse völlig mit seiner politischen Struktur harmoniren, die sie nicht untergraben, sondern stützen. Die Beherrschung Chinas wird aber' auch ökonomisch für Rußland von weit größerer Bedeutung, als die Beherrschung der Türkei. Neben Afrika bildet das ungeheure Reich der Mitte das einzige große Gebiet, das noch dem Weltmarkt zu erschließen ist. Aber das älteste der bestehenden Kulturreiche mit seinen Hunderten von Millionen Ein­wohnern bildet einen ganz anderen Markt, als das Innere Afrikas mit einigen Millionen bedürfnißloser Barbaren. Während die westlichen Nationen Europas, durch ihre geographische Lage verführt, sich in Afrika verbeißen und ihre besten Kräfte dort vergeuden, umklammert Rußland seinen Nachbar in Ostasien immer mehr und macht ihn politisch und ökonomisch von sich abhängig. Noch bedarf es heute der freien Passage durch den Bosporus und den Suezkanal, um seine <491> ostasiatischen Interessen zu wahren. Aber die transkaspische Eisenbahn hat ihm bereits eine Route nach Indien eröffnet, die es unabhängig von Konstantinopel macht, und die sibirische Eisenbahn wird das Gleiche für den Weg nach China bewirken. Konstantinopel wird dann aufhören, Zarigrad, die Zarenstadt zu sein, die Stadt, ohne deren Besitz das Zarenreich unvollständig ist.

Alles das führt dahin, daß der Boden für den Panslavismus innerhalb wie außerhalb Rußlands schwindet. Rußland hört auf, der Hort der unterdrückten slavischen Brüder zu fein, und diese fangen an, ihr Vertrauen auf die Hilfe des Väterchens an der Newa zu verlieren.

Gegenüber der Türkei sind heute schon die Rollen völlig vertauscht. Ruß­land ist ein Herz und eine Seele mit den türkischen Machthabern, ungerührt durch armenische und kretensische Greuel, indeß die Engländer, nicht blos Liberale, sondern auch Tories, als die Anwälte der unterdrückten Nationen der Türkei auf­treten und nur durch die Furcht vor einem Weltkrieg davor zurückgehalten werden, diesen Nationen zur Unabhängigkeit zu verhelfen.

Von dieser veränderten Situation bleibt aber auch Polen nicht unberührt.

Der Niedergang des Panslavismus ebenso wie das Erstehen einer starken revo­lutionären Bewegung in Rußland bewirken, daß das Eintreten für die Wieder­herstellung Polens ebenso wie das für die Integrität der Türkei aufhören, eine dringende Notwendigkeit für die westeuropäische Demokratie zu bilden. Die eine wie die andere dieser Forderungen verliert die große internationale Bedeutung, die sie, wie für die Demokratie im Allgemeinen, so auch für das revolutionäre Proletariat Europas besessen, und es wäre ganz verkehrt, wollte man die alte Schablone wiederbeleben und der neuen Internationale znmuthen, in der pol­nischen Frage genau die Haltung einzunehmen, die die erste Internationale ein­genommen.

Hätte Frl. Luxemburg nicht mehr beweisen wollen als das, wir würden ihr vollkommen zustimmen.

Aber sie geht noch einen Schritt weiter. Sie leugnet nicht blos die inter­nationale Bedeutung der polnischen Frage. Sie protestirt auch dagegen, daß die polnische Sozialdemokratie selbst die Unabhängigkeit Polens zu einer ihrer Forderungen macht.

Wir wollen in einem folgenden Artikel untersuchen, ob wir ihr auch in diesem Punkte zustimmen können.

II. Die Unabhängigkeit Polens.

Die Neue Zeit, Nr. 43. XIV. Jahrgang, II. Band. 1895-96. Seiten 513-525

<513>Frl. Luxemburg führt drei Gründe an, die nach ihrer Ansicht dagegen sprechen, daß die polnische Sozialdemokratie die Forderung der Unabhängigkeit Polens zu der ihrigen macht:

1) Ist diese Forderung in der heutigen Gesellschaft unerreichbar, gehört also ebenso wenig in unser praktisches Programm, als etwa der famose Militär­strike, für den Nieuwenhuis eintrat.

2) Bedeutet diese Forderung nichts Anderes, als ein Bestreben, sich der ökonomischen Entwicklung zu widersetzen, die auf die organische Einverleibung der entscheidenden Theile Polens in Rußland hinwirkt.

3) Bringt das Eintreten für diese Forderung die polnische Sozialdemokratie ins Schlepptau des kleinbürgerlichen Nationalismus und entfremdet sie in jedem der drei Theile Polens den praktischen Aufgaben, die sie zu lösen hat, die in jedem der drei Staaten, unter die Polen eingetheilt ist, andere sind, und die den engsten Anschluß der polnischen Proletarier an ihre Genossen in Deutschland, bezw. Österreich und Rußland, erforderlich machen.

Am kürzesten können wir den ersten dieser drei Punkte abthun, der auf einer seltsamen Verkennung des Wesens eines sozialistischen Programms beruht.

Unsere praktischen Forderungen, mögen sie nun ausdrücklich in einem Pro­gramm formulirte oder stillschweigend acceptirte "Postulate" sein, werden nicht darnach bemessen, ob sie unter den bestehenden Machtverhältnissen erreichbar sind, sondern darnach, ob sie mit der bestehenden Gesellschaftsordnung vereinbar sind und ob ihre Durchführung geeignet ist, den Klassenkampf des Proletariats zu erleichtern und zu fördern und diesem den Weg zur politischen Herrschaft zu ebnen.

Auf die augenblicklichen Machtverhältnisse nehmen wir dabei keine Rücksicht. Ein sozialdemokratisches Programm wird nicht für den Augenblick gemacht, es soll möglichst für alle Eventualitäten in der heutigen Gesellschaft ausreichen. Und es soll nicht blos der Aktion, sondern auch der Propaganda dienen, es soll in der Form konkreter Forderungen anschaulicher, als es abstrakte Ausführungen vermögen, die Richtung angeben, in der wir zu marschiren gedenken. Je weiter wir uns <514>dabei unsere praktischen Ziele stecken können, ohne uns in utopistische Spekulationen zu verlieren, um so besser. Um so klarer wird für die Massen — auch für jene, die nicht im Stande sind, unsere theoretischen Grundlegungen zu erfassen — die Richtung, die wir verfolgen.

Das Programm soll zeigen, was wir von der heutigen Gesellschaft oder vom heutigen Staat verlangen, nicht das, was wir von ihnen erwarten.

Nehmen wir z. B. das Programm der deutschen Sozialdemokratie. Es fordert die Wahl der Behörden durch das Volk. Diese Forderung ist, wenn man den Maßstab des Frl. Luxemburg anlegen will, ebenso utopistisch, wie die der Herstellung eines polnischen Nationalstaats. Niemand wird sich der Täuschung hingeben, daß die Wahl der Staatsbeamten durchs Volk im Deutschen Reiche unter den bestehenden politischen Verhältnissen erreichbar sei. Mit demselben Rechte, mit dem mau annehmen könnte, der polnische Nationalstaat sei erst durchführbar, wenn das Proletariat die politische Macht erobert hat, könnte man dies von der genannten Forderung behaupten. Wäre dies ein Grund, sie nicht in unser praktisches Programm aufzunehmen?

Oder nehmen wir eine damit verwandte Forderung, die allerdings im Pro­gramm der deutschen Sozialdemokratie nicht formulirt ist, die aber als "Postulat", als Ideal in der Brust eines jeden Sozialdemokraten lebt, die Republik. Die deutsche Republik ist um kein Haar näher und erreichbarer, als ein freies Polen. Deshalb wird Frl. Luxemburg es den deutschen Sozialdemokraten doch nicht ver­übeln, daß sie Republikaner sind. Was aber für die Deutschen recht, ist für die Polen billig. Wenn diese nun Republikaner sind, welcher Art kann ihr Ideal sein? Kann man erwarten, daß sie Bürger einer deutschen Republik sein wollen oder einer österreichischen (?!) oder einer russischen? Wenn sie die Republik wollen, können sie nur eine wollen, die polnische. Will Frl. Luxemburg den polnischen Sozialdemokraten verbieten, das Postulat eines unabhängigen Polens aufzustellen, weil dies heute unerreichbar, dann muß sie ihnen auch verbieten, Republikaner zu sein.

Gänzlich verunglückt ist der Vergleich der Resolution zu Gunsten der Un­abhängigkeit Polens, die dem internationalen Kongreß vorgelegt werden wird, mit der holländischen Resolution zu Gunsten des Generalstrikes. Diese forderte eine bestimmte That zu einem bestimmten Zeitpunkt. Bei der Aufstellung einer derartigen Forderung muß man allerdings die augenblicklichen Machtverhält­nisse in Betracht ziehen. Wer die Verpflichtung übernimmt, eine bestimmte That bei einer bestimmten Gelegenheit zu vollführen, ohne auch nur im Entferntesten die Macht zu besitzen, feine Verpflichtung einzulösen, ist ein Narr oder ein lächer­licher Prahlhans, und ein gewissenloser obendrein, wenn er durch die Übernahme dieser Aufgabe schwere Gefahren heraufbeschwört.

Auch mit den schärfsten Augen wird man in der polnischen Resolution nichts der Art entdecken können. Ja, wenn sie jedem Proletarier die Verpflich­tung auferlegte, am 1. Mai 1897 nach Warschau zu ziehen, um dort die pol­nische Republik zu proklamiren, dann stände sie auf derselben Höhe, wie die Nieuwenhuis'sche Resolution. In Wirklichkeit ist sie aber eine einfache Sympathie­erklärung, die nur eine moralische Wirkung üben soll. Selbst wenn die Unab­hängigkeit Polens vor dem Anbruch der politischen Herrschaft des Proletariats auf jeden Fall ausgeschlossen wäre, würde der Londoner internationale Kongreß sich durch Annahme der polnischen Resolution ebenso wenig eines lächerlichen Utopismus schuldig machen, als die erste Internationale durch ihre polnischen Resolutionen gethan.

<515>Ist aber die Erreichung der Unabhängigkeit Polens wirklich so aussichtslos, wie sie dem Frl. Luxemburg erscheint? Sie behauptet, die ökonomische Entwick­lung Russisch–Polens — wir sehen hier ab von Preußisch– und Österreichisch–Polen, die nicht ausschlaggebend sind und deren Einbeziehung in die Untersuchung unseren Artikel über Gebühr vergrößern würde — kette dieses immer enger an Rußland, und von den in der heutigen Gesellschaft maßgebenden Klassen Polens habe keine mehr ein Interesse an der Selbständigkeit ihres Vaterlandes. Sie weiß ihre Behauptungen durch eine Reihe höchst instruktiver Thatsachen zu belegen, und hier ist sicher ein ziemlich starker Punkt ihrer Position zu suchen.

Der frühere Träger des nationalen Gedankens, der niedere Adel, ist, wie wir im vorhergehenden Artikel gesehen, zum großen Theil vernichtet und sein Überrest unfähig und unwillig, den Kampf gegen das russische Joch weiter zu führen. Gerade in der Zeit, in der der Adel zu Grunde ging, begann aber eine neue herrschende und ausbeutende Klasse in Polen aufzusteigen, eine indu­strielle Bourgeoisie. Diese war jedoch ganz anders, wie die Bourgeoisie anderer Länder, keineswegs national gesinnt. Die neuen Kapitalisten waren zumeist ent­weder Deutsche oder Juden, die eine Art eigenartiges Deutschthum repräsen­tirten. Und die Wurzel ihres ökonomischen Gedeihens war die Verbindung Polens mit Rußland.

Als nach dem Krimkrieg die russische Regierung sich genöthigt sah, der industriellen Entwicklung freie Bahn zu schaffen, und als nach dem Aufstande von 1863/64 dieselbe Regierung die Zolllinie zwischen Polen und Rußland aufhob, um jenes um so enger an dieses zu fesseln, da begann eine Zeit des großartigsten wirthschaftlichen Aufschwungs für die polnische Industrie. Wir brauchen hier diese Erscheinung nicht weiter zu schildern, noch auch ihre Ursachen auseinanderzusetzen. Der Leser findet in dem letzten Artikel des Frl. Luxemburg, sowie in dem Artikel eines sachkundigen polnischen Genossen im zwölften Jahr­gang, Band 2 der "Neuen Zeit" ("Die industrielle Politik Rußlands in dessen polnischen Provinzen", S. 7875) ausreichende Informationen darüber.

Kein Zweifel, daß diese Entwicklung sehr dazu beigetragen hat, die Kraft des nationalen Gedankens in Russisch–Polen, also dem entscheidenden Theile Polens, zu lähmen, und wir geben gerne zu, daß Jeder, der geneigt ist, die Kraft des nationalen Gedankens in der heutigen polnischen Gesellschaft zu über­schätzen, gut thun wird, den Thatsachen, auf die Frl. Luxemburg hinweist, Be­achtung zu schenken. Aber von da bis zu der Überzeugung, die Unabhängigkeit Polens sei damit bis zum Siege des Proletariats endgiltig begraben, ist noch ein weiter Schritt.– Und den scheint Frl. Luxemburg etwas voreilig gemacht zu haben.

Vor allem müssen wir ihr entgegenhalten, daß jene Tendenz, die ihr als eine ständige erscheint, nur eine vorübergehende Phase ist, auf die man bald ebenso wenig wird bauen können, wie auf die Traditionen des alten adeligen Polens.

Die schönen Zeiten des mühelosen Profits haben auch für Russisch–Polen ein Ende erreicht. Die Ausdehnungskraft der kapitalistischen Großindustrie ist eine zu gewaltige, als daß irgendwo eine Aera des kräftigsten wirthschaftlichen Aufschwungs lange dauern könnte. Während in Polen die Industrie sich rapid entwickelte, erwuchs ihr ein mächtiger Konkurrent in Rußland selbst, und zwischen den beiden Rivalen entspinnt sich ein wüthender Kampf um den russischen und den asiatischen Markt. Nun beginnen aber die Kapitalisten in Polen mit der Kehrseite der Medaille Bekanntschaft zu machen; die Vereinigung Polens mit Ruß­land, die ihnen eine Zeitlang so günstig gewesen, zeitigt nun weniger angenehme <516>Konsequenzen für sie. Sie lernen es jetzt empfinden, daß der Pole in Rußland nur ein Mensch zweiter Klasse ist, daß Polen von der Willkür Rußlands ab­hängt. Die russische Regierung greift in den Konkurrenzkampf zwischen Russen und Polen ein zu Ungunsten der Letzteren. Noch hat man nicht eine Zollgrenze zwischen Polen und Rußland aufgerichtet; aber bereits wird die polnische Kon­kurrenz geschädigt durch höhere Steuern, eine Tarifpolitik der Eisenbahnen, die den Transport russischer Waaren erleichtert und polnischer Waaren erschwert, sowie durch Chikanen aller Art. Man vergleiche darüber die lehrreichen That­sachen in dem oben erwähnten Artikel "Die industrielle Politik Rußlands etc." und dem ihn ergänzenden Artikel von demselben Verfasser "Ein Beitrag zur Geschichte der Agrarpolitik Rußlands in dessen polnischen Provinzen" in Nr. 40 des jetzigen Jahrgangs der "Neuen Zeit".6

Der erstere dieser beiden Artikel schließt mit den Worten: "Polen wird gegenwärtig in wirthschaftlicher Beziehung als ein auswärtiger Staat behandelt, gegen den ein ökonomischer Krieg geführt wird. Selbst aber besitzt es keine Macht, sich gegen die Angriffe der russischen Regierung zu wehren."

Dieser Krieg Rußlands gegen die Polen wird aber offenbar immer energischer geführt werden, je mehr die Industrie in beiden Ländern sich entwickelt und je mehr Einfluß die russische Kapitalistenklasse auf ihre Regierung erlangt. In demselben Maße muß aber auch der Gegensatz der polnischen Bourgeoisie zum russischen Regiment wachsen, muß sie der nationalen Idee zugänglicher werden und anfangen, Interesse für ein selbständiges Polen zu erlangen. Daß in Preußisch–Polen und Galizien noch keine nennenswerthe Großindustrie existirt, daß dort nicht Konkurrenten, sondern Konsumenten wohnen, daß diese Gebiete der Industrie eines vereinigten selbständigen Polens einen Markt sichern würden, der sie entschädigen könnte für den Verlust des Marktes, der ihr in Rußland schritt­weise abgeschnitten wird, dürfte den nationalen Aspirationen in den Augen der polnischen Bourgeoisie auch nicht schaden. Damit bricht aber auch der Grund­pfeiler der Argumentationen des Frl. Luxemburg zusammen, der "untrügliche Schluß, daß die Wiedervereinigung Polens nicht im Interesse seiner ökonomischen Entwicklung liegen kann, die sich eben in der polnischen Bourgeoisie verkörpert", und daß die Unabhängigkeit Polens der Bourgeoisie von dem Proletariat auf­gezwungen werden müßte.

Allerdings, die Bourgeoisie ist heute nirgends mehr revolutionär gesinnt; sie hat nie im Vorkampfe der Revolution gestanden und empfindet jetzt noch weniger das Bedürfniß dazu als je, auch in Rußland und Polen. Die polnische Bourgeoisie wird nie eine Insurrektion beginnen, wie ehedem der niedere Adel; sie wird nie für die Unabhängigkeit Polens ihre Haut zu Markte tragen. Aber das ist auch gar nicht nothwendig. Die Freiheit Polens findet noch andere Kämpfer, die entschiedener für sie eintreten.

Frl. Luxemburg spricht ziemlich geringschätzig vom Kleinbürgerthum. Nun ist dieses für die Heute herrschende Produktionsweise fast ohne jede Bedeutung, und der Theoretiker, der diese erforschen will, darf von ihm absehen. Er braucht blos von Kapitalisten und Proletariern zu handeln. Aber der praktische Politiker würde einen großen Fehler begehen, wollte er ebenso wie der Theoretiker des kapitalistischen Produktionsprozesses das Kleinbürgerthum als quantité négligable behandeln.

Die Kleinbürger bilden bei Beginn der kapitalistischen Produktionsweise die große Masse der städtischen Bevölkerung. Relativ, das heißt, im Verhältniß zum Proletariat, nimmt ihre Zahl im Fortgang der modernen Produktionsweise <517>rasch ab, aber ihre Zahl kann dabei absolut zunehmen, mitunter sogar relativ, im Verhältniß zur Gesamtbevölkerung, wenn die städtische Bevölkerung rasch genug wächst. Der Zuzug vom Lande vermehrt nicht blos die Zahl der prole­tarischen, sondern auch die der kleinbürgerlichen Existenzen in der Stadt. Und die Konkurrenz der kapitalistischen großen Unternehmungen ruinirt die kleinen, beseitigt sie aber nicht ebenso schnell. Sie äußert ihre Wirkung vielmehr darin, den Charakter der kleinen Unternehmungen zu ändern. Sie beseitigt z. B. nicht überall den Handwerker. Öfter verwandelt sie ihn in einen Flicker, einen Händler mit Fabrikwaaren oder einen Sweater7. Endlich giebt das Proletariat selbst einen stets wachsenden Nährboden für ein zahlreiches parasitisches Klein­bürgerthum ab — für Kleinhändler, Gastwirthe und dergleichen.

Nicht in der Abnahme der Zahl der Kleinbürger äußert sich am auf­fallendsten der Ruin des Kleinbürgerthums, den die kapitalistische Produktions­weise mit sich bringt, sondern in der Abnahme ihres Wohlstandes, der Ab­nahme der Sicherheit ihrer Existenz, in der Zunahme ihrer Abhängigkeit und in der völligen Aussichtslosigkeit aller Bemühungen, aus eigener Kraft wieder auf einen grünen Zweig zu kommen. Die individuelle Selbsthilfe, die der Kleinbürger ehedem als das non plus ultra der Lebensweisheit pries, verliert nun jede Be­deutung in seinen Augen; wer sie ihm anpreist, wird ihm als "öder Manchester­mann" verhaßt. Der wachsende Druck des Elends und der Unsicherheit drängt ihn immer mehr, von der Staatsgewalt zu fordern, was er selbst nicht leisten kann: die Schaffung auskömmlicher Existenzbedingungen. Und da keine Gewalt das in der heutigen Gesellschaft ermöglichen kann, wird er naturnothwendig oppositionell gegen die jeweilige Regierung, wird er rebellisch.

Dieselbe Produktionsweise jedoch, die die Kleinbürger ins Elend stürzt, auf­stachelt und erbittert, beseitigt auch die Abgeschlossenheit der einzelnen Städte von einander, bewirkt, daß nicht blos in den politischen Zentren, sondern selbst in den kleinen Landstädtchen neben dem stets regen Interesse für kommunale An­gelegenheiten auch das Interesse für Staatsangelegenheiten erwacht. Und so kommt es, daß trotz des ökonomischen Rückganges des Kleinbürgerthums die Kraft und Ausdehnung der kleinbürgerlichen Opposition im Lande stets zunimmt — allerdings nicht im Verhältniß zur Kraft und Ausdehnung der proletarischen Opposition, aber im Verhältniß zur Kraft der Staatsgewalt.

Diese kleinbürgerliche Opposition tritt vermöge ihres ökonomisch reaktionären Charakters häufig in ganz grotesken Gestalten aus; sie bildet den Nährboden für die modernen Formen des Klerikalismus und Antisemitismus. Wo aber inner­halb eines Landes zwei Nationen einander gegenüberstehen, da nimmt diese Oppo­sition naturnothwendig, namentlich bei der schwächeren Nation, einen nationalen Charakter an. Jeder Gegensatz der Klassen oder der Konkurrenten verschärft und verbittert sich, wenn er mit einem nationalen Unterschied zusammentrifft, und wirkt dahin, den nationalen Unterschied in einen nationalen Gegensatz zu ver­wandeln. Und wo der erstere zur Minderberechtigung und Mehrausbeutung der einen Nationalität führt, da wird der letztere vollends lebendig, beim Kleinbürger mehr noch als beim Bourgeois, weil jener mehr darunter leidet, weniger sich wehren kann, und weil er naturgemäß dahin kommt, auch die Schädigungen, die ihm die ökonomische Entwicklung unter allen Umständen auferlegen würde, aufs Konto der feindlichen Nation zu schreiben. Sicher wird, wenn die kapitalistische Produktions­weise lange genug dauert, das Kleinbürgerthum zusammenschmelzen und damit auch seine Opposition an Kraft und Ausdehnung abnehmen. Aber vorläufig ist sie im Wachsen, namentlich in einem Lande, wie Russisch–Polen, das so unver­ <518>mittelt von der bäuerlichen Naturalwirtschaft zur kapitalistischen Produktion über­gesprungen ist und das seine Industrie so rasch entwickelt. Hier findet diese kein zahlreiches und kraftvolles Kleinbürgerthum vor, das sie zu expropriiren hätte. Hier schafft die kapitalistische Produktionsweise, indem sie eine ausgedehnte städtische Bevölkerung hervorruft und auch auf dem flachen Lande die Natural­wirtschaft durch Waarenproduktion und Waarenhandel immer mehr verdrängt, zugleich mit ihrem Boden auch den für ein Kleinbürgerthum, das mit ihr bis zu einem gewissen Punkte der Entwicklung wächst, und man hat gegründete Ursache, anzunehmen, daß das absolute Regiment des Zarismus nicht so lange lebt, bis dieser Punkt erreicht ist, und daß bis dahin die Opposition des Klein­bürgerthums stets kraftvoller sich äußern wird.

Fast noch geringschätziger als vom Kleinbürgerthum spricht Frl. Luxemburg von der "Intelligenz". Aber auch diese ist eine nicht zu unterschätzende Macht. Sie übt in der kapitalistischen Gesellschaft höchst wichtige, geradezu unentbehrliche Funktionen aus. Diese Gesellschaft bedarf nicht nur der Ingenieure, Staats– und Privatbeamten, Schullehrer und Professoren, sowie der Ärzte, sondern auch der Journalisten und der Advokaten, um ihr Getriebe im Gang zu erhalten. Mit der kapitalistischen Produktionsweise wächst die Ausdehnung dieser Berufe und ihre Bedeutung für das wirtschaftliche Leben. Aber auch in der Politik spielen sie eine hervorragende Rolle. Sie besitzen das Monopol des Wissens in der heutigen Gesellschaft und sind einer klareren Erkenntniß der gesellschaftlichen Zusammenhänge fähig. Ihre Interessen sind zu verschieden, als daß sie eine geschlossene Klasse bilden könnten; im Allgemeinen stehen sie der Bourgeoisie am nächsten, aber sie nehmen nicht als Klasse an deren Klassenkämpfen theil. Die Mitglieder der Intelligenz können sich also leichter als die der Bourgeoisie über die Klassenbornirtheit erheben, und zu Vertretern der Gesammtinteressen der Nation oder großer Volksschichten innerhalb derselben werden, die ihre besondere Theilnahme erregen. Die bürgerliche Intelligenz ist daher in modernen Staaten die vornehmste Verfechterin einer nationalen Bewegung, sie liefert aber auch allenthalben die geistigen Wegweiser der unteren Klassen in ihren Klassenkämpfen, namentlich in deren Anfängen, so lange diese rein instinktiver Natur, und giebt ihnen durch größere Klarheit auch größere Entschiedenheit und Kraft. Dadurch allein schon politisch wichtig, wird sie es noch mehr dort, wo sie in Masse für eine bestimmte Idee eintritt, denn sie bildet das geistige Band der Gesellschaft, sie beeinflußt mehr als jede Gesellschaftsschicht die öffentliche Meinung, ermutigt oder entmutigt die herrschenden Klassen.

Frl. Luxemburg hat aber selbst schon darauf hingewiesen, wie gerade die Intelligenz in Polen am schwersten unter der russischen Herrschaft zu leiden hat, wie sie gewaltsam den nationalen Bestrebungen in die Arme getrieben wird, für die sie von vornherein mehr als jede Klasse disponirt ist. Trifft das zusammen mit einer weitgehenden nationalen Empörung im Kleinbürgerthum und beginnender Unzufriedenheit mit dem russischen Regime in der Bourgeoisie, so muß dies der nationalen Bewegung eine Kraft verleihen, von der wir nichts weniger als ge­ringschätzig denken.

Bleibt die Bauernschaft. Diese bildete allerdings bisher den wundesten Punkt der nationalen Bewegung in Polen, fast mehr noch als die Bourgeoisie. Der Adel war der nächste Feind des Bauern, und so lange der Adel den Träger der nationalen Idee bildete, mußte der Bauer, so weit er überhaupt sich darum bekümmerte, ihr entschiedener Gegner sein. Darauf beruhte das Bündniß zwischen der polnischen Bauernschaft und dem Zaren, dessen Kosten der Adel zu tragen hatte.

<519>Aber darf man erwarten, die Bauernfreundschaft des Zaren und die Zaren­liebe des Bauern werde ewig währen? Diese Erscheinungen müssen mit der besonderen historischen Situation verschwinden, die sie geboren, und heute schon lassen sich deutliche Ansätze dazu erkennen. Der Zar hat keine Ursache mehr, dem polnischen Bauern besonderes Wohlwollen zu Theil werden zu lassen, seit­dem der Adel theils ruinirt, theils zu Kreuz gekrochen ist. Die finanzielle Si­tuation Rußlands würde ihm auch ein derartiges Wohlwollen sehr erschweren. Wie dem russischen, wird auch dem polnischen Bauer ausgepreßt, was sich aus ihm erpressen läßt.

Nun kommt die Agrarkrisis, die Getreidepreise sinken, das russische Getreide überschwemmt nicht nur die deutschen, sondern auch die polnischen Märkte. Der deutsche Grundbesitzer wird gegen diese Invasion durch Zölle geschützt; der Grund­besitzer in Russisch–Polen bleibt nicht nur ungeschützt, er wird noch benachtheiligt gegenüber seinem russischen Konkurrenten durch eine schlau ausgeheckte Tarifpolitik der Eisenbahnen des russischen Reichs und andere Maßnahmen der Staatsgewalt. Gleich dem Bourgeois wird so auch dem Bauern in Russisch–Polen ad oculos8 demonstrirt, was es heißt, nicht Herr im eigenen Hause, sondern der Sklave eines fremden Eroberers zu sein. Und je mehr die Agrarkrisis sich verschärft, desto mehr muß der Gegensatz des polnischen Bauern zum russischen Regime zu­nehmen. Sollte da der Bauer in Polen fortfahren, ein ernsthaftes Hinderniß für die nationale Bewegung zu bilden? Muß er nicht in dem Maße, in dem die ökonomische Entwicklung fortschreitet, ein immer lebhafteres Interesse an der Unabhängigkeit Polens erhalten?

Angesichts aller dieser Thatsachen sind wir weit entfernt davon, mit Frl. Luxemburg anzunehmen, die nationale Bewegung in Polen sei ein Ding der Vergangenheit, ohne festen Boden in der Gegenwart und in völligem Widerspruch zu den Tendenzen der ökonomischen Entwicklung. Gewiß, die Ausführungen des Frl. Luxemburg sind nicht reine Phantasie, sie beruhen auf soliden Thatsachen. Aber Frl. Luxemburg sieht nur die eine Seite dieser Thatsachen und übertreibt dieselbe, und sie hält Thatsachen für dauernd, die vorübergehend sind. Die Zustände, auf die sie sich beruft, haben wirklich bestanden, waren aber nie so kraß, wie sie sie schildert, und sie sind im Verschwinden begriffen. Das Klein­bürgerthum und die Intelligenz sind nicht so machtlos, wie sie meint, und ihre Kraft verspricht eher zu- statt abzunehmen; und Bourgeoisie und Bauernschaft gerathen allmälig in eine Situation, die ihnen die Vereinigung Polens mit Rußland schließlich unerträglich erscheinen lassen muß. Hat man Unrecht, wenn man auf diese Thatsachen gestützt, annimmt, auf dem Grabe der alten, feudalen Bewegung für die Wiederherstellung Polens beginne nach einer kurzen Pause eine neue nationalpolnische Bewegung zu erstehen, eine der modernen Entwicklung entsprossene, lebenskräftige und zukunftsreiche?

Ebensowenig wie die innere Entwicklung Polens, verweist die seiner Um­gebung den polnischen Nationalstaat in das Gebiet des Zukunftsstaates. Wir wollen ganz absehen von einem Weltkrieg, der oft ganz unerwartete Wendungen mit sich bringt, und nur einen Faktor in Erwägung ziehen, dessen Wirksamkeit sich leichter übersehen läßt. Unter allen europäischen Staaten ist Rußland der­jenige, dessen politische Struktur mit seinem gesellschaftlichen Organismus und dessen Bedürfnissen am meisten in Widerspruch gerathen ist und der am meisten der Organe ermangelt, die einen derartigen Widerspruch schrittweise und ohne Gewaltthätigkeit aufheben könnten. Kein europäischer Staat steht daher so nahe vor einer politischen Revolution wie Rußland. Eine solche kann sich aber nicht <520> vollziehen, ohne daß auch die polnische Frage auftaucht und ihre Lösung heischt — also nicht erst im proletarischen, sondern schon im heutigen, im "Klassenstaat".

Es wäre müßig, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was beim Eintreten derartiger revolutionärer Ereignisse erfolgen wird, ob schon die Einigung Polens oder nur ein vorbereitender Schritt in dieser Richtung; ob Kongreßpolen dann schon ein selbständiger Staat wird oder ob sein Verhältniß zu Rußland sich ähnlich gestaltet, wie das Norwegens zu Schweden, das Ungarns zu Öster­reich oder das Kroatiens zu Ungarn. Das wird von den Umständen abhängen, von der Kraft, welche die nationalpolnische Bewegung bis dahin erlangt hat, von den Kräften, welche die Revolution zu Gunsten und zu Ungunsten der Selbst­ständigkeit Polens in Rußland entfesseln wird — lauter Faktoren, die völlig unberechenbar sind. Aber darum handelt es sich hier auch gar nicht, sondern um den Nachweis, daß bereits im Rahmen der heutigen Gesellschaft, in abseh­barer Zeit, die polnische Unabhängigkeit zu einer Frage sehr praktischer Politik werden kann, und daß das polnische Proletariat daher alle Ursache hat, zu ihr Stellung zu nehmen und sich nicht mit dem Hinweis auf den großen Kladdera­datsch, der Alles von selbst in Ordnung bringen werde, um sie herumzudrücken.

Wenn aber das polnische Proletariat zur Frage der Unabhängigkeit Polens Stellung nimmt, dann kann gar kein Zweifel darüber sein, welcher Art seine Stellungnahme zu sein hat. Frl. Luxemburg selbst zweifelt nicht im geringsten daran, daß der Sieg des Proletariats die polnische Nation befreien wird, daß ein unselbständiges Polen unvereinbar ist mit den Grundlagen einer sozialistischen Gesellschaft. Sobald also das Proletariat sich mit der polnischen Frage befaßt, kann es gar nicht anders, als sich zu Gunsten der Unabhängigkeit Polens aus­zusprechen, damit aber auch die Unterstützung jedes Schrittes gutzuheißen, der in dieser Richtung heute schon gethan werden kann, soweit er überhaupt vereinbar ist mit den Klasseninteressen des internationalen kämpfenden Proletariats.

Dieser Vorbehalt muß allerdings gemacht werden. Die nationale Unab­hängigkeit hängt nicht so innig mit den Klasseninteressen des kämpfenden Prole­tariats zusammen, daß sie bedingungslos, unter allen Umständen anzustreben wäre. Marx und Engels traten für die Einigung und Befreiung Italiens mit größter Entschiedenheit ein, das hinderte sie aber nicht, 1859 sich gegen das mit Napoleon verbündete Italien zu erklären.

Hier kommen wir zu dem letzten Hauptargument des Frl. Luxemburg gegen den "Sozialpatriotismus": Das Eintreten für die Unabhängigkeit Polens droht die polnische Sozialdemokratie in das Schlepptau des kleinbürgerlichen Nationa­lismus zu bringen und ihr Interesse wie ihre Kraft für die praktischen Kämpfe zu schmälern, die sie in jedem der drei Theile Polens mit Proletariern anderer Nationalitäten zusammen zu kämpfen hat.

Was letzteren Punkt anbelangt, so wollen wir durchaus nicht leugnen, daß in einem mehrsprachigen Staate das Hineintragen des nationalen Elements in Fragen der Organisation und Propaganda durchaus nicht förderlich für den Klassenkampf ist. Das getrennt Marschiren und vereint Schlagen kann allerdings unter Umständen ausgezeichnete Resultate ergeben, aber es ist immer mit einer Vergeudung von Kräften verbunden, schließt jene Schlagfertigkeit aus, die eine zentralisirte Organisation ermöglicht, und giebt Raum zu Reibungen, die sehr verdrießlich werden können, nie förderlich sind.

Uns scheint denn auch z. B. die heutige Organisation der Sozialdemo­kratie in Österreich nichts weniger als eine ideale zu sein. Wir würden dem nationalen Föderalismus eine zentralisirte Organisation entschieden vorziehen.

<521>Aber es fragt sich, ob eine solche möglich ist und ob es nicht gerade die prak­tischen Aufgaben sind, die eine größere Berücksichtigung des nationalen Moments erheischen. Je mehr die Sozialdemokratie in den Massen festen Fuß faßt, je mehr sie auf die Massen und durch die Massen wirkt, desto mehr werden sich in ihr die nationalen Verschiedenheiten bemerkbar machen — ob mit oder ohne "sozialpatriotisches" Programm.

Wir haben schon einmal darauf hingewiesen, daß der Materialismus des Frl. Luxemburg an großer Einseitigkeit leidet; sie überschätzt einige Momente, andere ignorirt sie ganz ungerechtfertigter Weise. Dazu gehört auch die Sprache. Das gesellschaftliche Produziren, das ganze gesellschaftliche Leben ist unmöglich ohne die Sprache. Die Gesellschaft und die Sprache bedingen einander aufs Innigste. Ein enges gesellschaftliches Zusammenleben erzeugt mit Naturnothwendigkeit auch eine gewisse Sprachgemeinschaft; auf der anderen Seite ist das Fehlen der Sprachgemeinschaft eines der größten Hindernisse eines gesellschaftlichen Zusammenhangs. Auf Polen angewendet besagt das, daß das Fehlschlagen der Germanisirung wie der Russifizirung des eigentlichen Polen deutlich beweist, wie lose und ganz äußerlich jene angeblich "organische" Verbindung Polens mit seinen Nachbarn ist, auf die Frl. Luxemburg sich beruft. Anderseits besagt es aber auch, daß trotz der Zoll­grenzen, trotz der Verschiedenheit der praktischen Aufgaben der Sozialdemokratie in Deutschland, Österreich und Rußland, die Sprachgemeinschaft ein festeres Band bildet als die Kampfgenossenschaft in den praktischen Kämpfen. Dieser übermächtige Einfluß der Sprachgemeinschaft und nicht der Einfluß sozialpatriotischer Forderungen ist es, der die polnischen Sozialdemokraten aller drei Reiche in allen internationalen Fragen als geschlossene Einheit vorgehen läßt, so daß sie auf den internationalen Kongressen als besondere Nation auftreten, ihre Maifestblätter gemeinsam herstellen u. s. w. Die Sprachgemeinschaft ist es aber auch, die be­wirkt, daß in der praktischen Agitation innerhalb des Landes selbst der Einfluß der polnischen Genossen der Nachbarstaaten vielfach mehr zur Geltung kommt, als der der nichtpolnischen Genossen des eigenen Staates. Es ist ganz selbst­verständlich, daß den Sozialdemokraten Posens die sozialistischen Zeitungen und Broschüren, die in Galizien erscheinen, näher liegen und auf sie größere Wirkung ausüben, als die Zeitungen und Schriften der deutschen Sozialdemokratie, die der Masse der polnischen Arbeiter gar nicht oder nur in Übersetzungen zugänglich sind. Und ebenso ist es natürlich, daß dem Schriftsteller in Krakau oder Lem­berg das Urtheil des Publikums in Posen oder Warschau wichtiger ist, als das des Publikums in Wien oder in Graz.

Wir sind weit entfernt, die Unbequemlichkeiten, ja sogar Gefahren zu unterschätzen, die aus diesem Zustande für die sozialistische Bewegung in den in Rede stehenden drei Ländern, namentlich in Österreich und Rußland, erwachsen können; aber wir verstehen nicht, wie man daraus ein Argument gegen die Un­abhängigkeit Polens schmieden kann. Denn nicht aus der Agitation für diese Unabhängigkeit entspringen die Mißstände des nationalen Föderalismus, sondern gerade aus dem Fehlen dieser Unabhängigkeit. Sie bezeugen deutlich genug, daß das polnische Proletariat nicht seine volle Kraft im praktischen Kampfe entfalten noch auch seine Organisation zur Vollendung bringen kann, so lange die Thei­lung Polens besteht; daß das polnische Proletariat erst in einem geeinigten, selbständigen Polen den Boden findet, dessen es bedarf, um im Staate den seiner Entwicklungsstufe entsprechenden Einfluß zu üben; daß also die Forderung der Unabhängigkeit Polens nicht eine bedeutungslose Spielerei, sondern eine höchst praktische Forderung von großem Werthe ist.

<522>Bedroht aber die Erhebung dieser Forderung nicht die polnische Sozial­demokratie mit der Gefahr des Versinkens in kleinbürgerlichen Nationalismus? Sicher, diese Gefahr ist vorhanden, aber so viel Vertrauen müssen wir schon zu unserer Partei haben, daß sie im Stande ist, den Gefahren zu begegnen, die der Eintritt in das Leben mit sich bringt. Die Tugend, die nur unter strengstem Verschluß bewahrt werden kann, die ist keinen Schuß Pulver werth. Die Gefahr, die hier auftaucht, ist aber kaum größer als die Gefahr, die aus der Verfechtung irgend einer Forderung droht, die wir mit der bürgerlichen Demokratie gemein haben.

Wenn die Sozialdemokratie ihre Schuldigkeit thut, ist ein schädlicher Ein­fluß des "Postulats" eines unabhängigen Polens nicht zu fürchten. Schon des­wegen nicht, weil die Agitation der Sozialdemokratie für die nationale Unab­hängigkeit eine ganz andere sein muß, als die der bürgerlichen Demokratie. Sie ist frei von jedem Chauvinismus, und die polnische Sozialdemokratie hat bewiesen, daß sie der internationalen Solidarität des Proletariats sich ebenso tief bewußt ist, wie die Sozialdemokratie irgend eines Landes. Die nationalföderalistische Organisation unserer Partei in Österreich mag manche Schwerfälligkeit, manche Reibung mit sich bringen, die bei einer geschlosseneren Organisation hätten vermieden werden können, aber das Verhältniß des galizischen klassenbewußten Proletariats zu den anderen Theilen des österreichischen Proletariats ist das herzlichste und es ist gar nicht daran zu denken, daß das Eintreten für die Unabhängigkeit Polens die geringste Trübung dieses Verhältnisses herbeiführen könnte.

Die Sozialdemokratie steht aber auch allen Forderungen, die sie mit der bürgerlichen Demokratie gemein hat, kritisch gegenüber, und mögen sie noch so berechtigt und nothwendig sein. Sie muß neben der Bedeutung auch die Unzu­länglichkeit dieser Forderungen betonen. Dies gilt, wie von der politischen Frei­heit, so auch von der nationalen Unabhängigkeit.

Der einzelne Agitator kann natürlich die Bedeutung der einzelnen praktischen Forderungen, die wir stellen, in einer Weise übertreiben, die dem Wesen unserer Partei nicht entspricht, vielleicht sogar in entschiedenem Gegensatz dazu steht. Er kann Illusionen hegen und verbreiten über die Wirkungen des allgemeinen Wahl­rechts, des Achtstundentags, also auch der nationalen Unabhängigkeit, Illusionen, die mehr bürgerlichen Reformern als proletarischen Revolutionären entsprechen. Aber das muß doch nicht geschehen, und daß es geschehen kann, ist sicher kein Grund, die betreffende Forderung nicht aufzustellen!

Frl. Luxemburg wird selbst diesem Argument, losgelöst von den anderen, keine besondere Beweiskraft zusprechen. Wir hätten es kaum nothwendig gefunden, es überhaupt zu berühren, wenn wir nicht annähmen, daß gerade in diesem Punkt der wichtigste, allerdings nicht theoretische, sondern psychologische Grund für die Gegnerschaft gegen die Idee der Unabhängigkeit Polens bei der antinationalen Fraktion der polnischen Sozialdemokraten zu suchen ist. Soweit wir aus ver­einzelten Äußerungen urtheilen können, scheint es uns allerdings, als ob mancher polnische Parteigenosse aus Furcht, nicht national genug zu erscheinen, und aus dem Bedürfniß, sich in der Konkurrenz mit dem kleinbürgerlichen Nationalismus nicht überflügeln zu lassen, der nationalen Phrase und der nationalen Illusion zu große Konzessionen machte. Das mag ein Extrem in entgegengesetzter Rich­tung hervorrufen. Aber wenn diese gegensätzliche Richtung sich nicht darauf be­schränkt, Kritik innerhalb der Partei zu üben, wenn sie die Reinheit der Partei­prinzipien für gefährdet erklärt und die Partei spaltet, um dem Proletariat zuzu­muthen, daß es nicht nur auf die nationale Unabhängigkeit verzichte, das heißt auf den Boden, auf dem es erst zu voller Entfaltung seiner Kraft kommen <523>kann, sondern daß es sogar jeden Versuch bekämpfe, der einen Schritt zur natio­nalen Unabhängigkeit bedeuten könnte, dann bleibt diese Richtung allerdings von der Gefahr des kleinbürgerlichen Nationalismus entschieden verschont, aber sie geräth in die entgegengesetzte, viel größere Gefahr, die Geschäfte der Unterdrücker Polens zu besorgen. Die antinationalen Sozialdemokraten Polens, die sich lieber der Gefahr aussetzen, dem Zaren zu nützen, als der Gefahr, der kleinbürgerlichen Demokratie Vorschub zu leisten, erinnern uns an manche englische Sozialisten, die, ebenfalls mit Berufung auf Materialismus und Marxismus, für die Tones stimmten, damit die Reinheit ihrer Prinzipien ja nicht in Gefahr komme, durch bürgerlichen Radikalismus verdorben zu werden. Die Erfahrungen dieser eng­lischen Sozialisten sollten die polnische Sozialdemokratie gerade nicht ermuthigen, ein ähnliches Experiment auf dem viel schlüpfrigeren Boden des russischen Abso­lutismus zu versuchen.

Von welcher Seite wir also auch die Frage der Selbständigkeit Polens betrachten mögen, wir finden nirgends einen Grund für die polnischen Sozialisten, einzustimmen in den Ruf: finis poloniæ! und auf die Unabhängigkeit ihres Vater­landes in ihrer praktischen Thätigkeit Verzicht zu leisten.

Ebenso wenig aber erwarten wir, daß ein internationaler Proletarierkongreß ihnen eine derartige Resignation zumuthen wird. Die einzige Frage, die in dieser Beziehung auftauchen könnte, wäre die, ob ein internationaler Sozialistenkongreß überhaupt ein Urtheil über die nationalen Bestrebungen der Polen abzugeben hat. Praktisch ist diese Frage momentan die wichtigste, angesichts des in wenigen Tagen in London zusammentretenden internationalen Kongresses9, dem ja bekanntlich zwei polnische Resolutionen vorliegen werden. 10

Frl. Luxemburg weist darauf hin, daß die polnische Frage die internationale Bedeutung für das kämpfende Proletariat verloren habe, die sie noch vor einem Menschenalter besessen, und daß es doch nicht angehe, den internationalen Kongreß zum Schiedsrichter in nationalen Streitfragen zu machen, was ein sehr gefähr­liches Beginnen wäre.

Beides ist richtig. Trotzdem können wir dem Schlusse nicht zustimmen, den sie daraus zieht. Würde es sich blos um die Polen in Preußen und Öster­reich handeln, dann wäre es allerdings höchst überflüssig, daß der Kongreß sich ihrer annähme; Nationen, die in Versammlungen, in der Presse, in gesetzgebenden Körpern zu Worte kommen können, bedürfen der Fürsorge des internationalen Proletariats nicht, um so mehr, da sich's gezeigt, daß die Proletarier der ver­schiedenen Nationen überall die verschiedenen nationalen Streitfragen unter sich ohne internationale Intervention zu erledigen wissen: die elsässische Frage bildet keinen Differenzpunkt zwischen den deutschen und den französischen Sozialisten, die Frage der Italia irredenta keinen Streitpunkt zwischen den Sozialisten Öster­reichs und denen Italiens. Aber die russischen Polen leben als Unterthanen des Zaren in einem Ausnahmsfalle. Jede öffentliche Thätigkeit ist ihnen unmöglich gemacht. Weder können die Proletarier in Russisch–Polen sich mit ihren Genossen im eigentlichen Rußland öffentlich verständigen, noch können sie vor der Öffent­lichkeit ihr besonderes Programm entwickeln. Dagegen bietet ein internationaler Kongreß eine vortreffliche und ganz einzige Gelegenheit, der Welt kund zu thun, daß das polnische Proletariat festhält an der Forderung der Unabhängigkeit Polens, und daß es diese Forderung verficht im Einverständniß mit dem Pro­letariat der ganzen Welt, inbegriffen das russische Proletariat.

Außerdem kommt aber noch ein anderes Moment hier in Betracht. In keinem Lande ist der Kampf der revolutionären Elemente gegen das bestehende <524> Regime von größerer internationaler Bedeutung, als in Rußland. Denn noch ist das Zarenthum der Hort der Reaktion, der gefährlichste Feind jeglicher west­europäischen Zivilisation, und seine Bekämpfung eine der Aufgaben des gesammten Proletariats aller Länder. In dieser Beziehung hat sich nicht das Mindeste geändert. Allerdings, der Kampf um die Unabhängigkeit Polens steht heute nicht mehr im Vordergrund unter den revolutionären Tendenzen, die im Zarenreiche wirken; aber er hat darum doch nicht aufgehört, ein Faktor zu sein, der die Sympathien des internationalen Proletariats vollauf verdient. Und dieses hat die Pflicht, seinen Sympathien entschiedenen und herzlichen Ausdruck zu geben, wenn die polnischen Sozialisten der Ansicht sind, eine derartige Kundgebung werde sie moralisch stärken und dem Zarenthum Abbruch thun.

Hier kommen wir zu dem dritten Moment, das es wünschenswert macht, daß der Kongreß sich für die Unabhängigkeit Polens ausspreche. In keinem Lande ist die Arbeiterbewegung so abhängig von der internationalen Bewegung, wie in Rußland. Sind auch alle Mittel der Propaganda und der Verständigung dort unterbunden, eines kann man nicht beseitigen, die Nachrichten aus dem Aus­land. Über ihre eigene Klassenbewegung erfahren die russischen Arbeiter fast noch weniger, als das Ausland. Aber von den Bewegungen im übrigen Europa erhalten sie Kunde, von den großen Strikes, den Wahlstegen, den Erweiterungen des Wahlrechts u s. w. Und das giebt ihnen den Muth und den Wunsch, Ähn­liches auch selbst zu versuchen.

Angesichts dieser intellektuellen Abhängigkeit vom Ausland ist es für die Proletarier Rußlands viel wichtiger, als für die eines jeden anderen Landes, sich in Übereinstimmung mit ihren ausländischen Genossen zu wissen, und daher muß jede Kundgebung in diesem Sinne höchst ermuthigend auf sie wirken.

Alles das sind Momente, die es unseres Erachtens wohl rechtfertigen, daß der internationale Kongreß sich mit der polnischen Frage beschäftigt, trotzdem er die Entscheidung westeuropäischer nationaler Fragen von sich weist.

Damit wollen wir allerdings nicht sagen, daß wir uns für die Resolution zu Gunsten der Unabhängigkeit Polens, die dem Kongreß vorgelegt werden soll, sehr begeistern könnten. Sie ist in der "Neuen Zeit" zweimal abgedruckt worden, zuerst im Artikel Häckers11, dann in dem letzten des Frl. Luxemburg (S. 461)12, wir können also davon absehen, sie noch einmal zu veröffentlichen.

Sie giebt zwei Gründe an, warum die Unabhängigkeit Polens im Interesse der internationalen Arbeiterbewegung liegt: erstens den Umstand, daß die Unter­jochung einer Nation stets für das Proletariat der unterdrückten wie der unter­drückenden Nation verderblich ist; zweitens die Gefährlichkeit des russischen Zaren­thums für die internationale Arbeiterbewegung. Der erste Punkt ist etwas zu unbestimmt ausgedrückt; es ist darin keine Rede von der Wichtigkeit der natio­nalen Einigung und Unabhängigkeit für den Klassenkampf des Proletariats, davon, daß in einer zerstückelten Nation das Proletariat für seinen Klassenkampf nicht sein volles Interesse und seine volle Kraft entfalten kann, daß die Unabhängig­keit der Nation ebenso eine Vorbedingung für die kraftvollste Führung des Klassen­kampfes bildet, wie die politische Freiheit. Abgesehen davon aber macht das erste Argument der polnischen Resolution die Unabhängigkeit Polens zwar zu einer nothwendigen Forderung für die polnische Arbeiterschaft, es kann aber nicht bestimmend sein für das internationale Proletariat. Ginge der Kongreß auf diese Motivirung ein, dann hätten die Ruthenen, Rumänen, Slovaken, Irreden­tisten in Tirol und Triest, Tschechen, Iren etc. auch das Recht, sich vom Kongreß die Nothwendigkeit ihrer nationalen Forderungen bestätigen zu lassen.

Wo käme <525 man da hin! Nein, dies Motiv kann nebenbei den Kongreß der Unabhängig­keit Polens günstig stimmen, es kann nicht das entscheidende Motiv sein, welches diese zu einer internationalen Notwendigkeit erhebt. Diese wird einzig und allein durch die eigentümliche Rolle gegeben, die das Zarenthum spielt. Aber die polnische Resolution übertreibt in diesem Punkte entschieden, wenn sie das Zarenthum "seine inneren Kräfte und seine äußere Bedeutung aus der Unterjochung und Theilung Polens" ziehen läßt. Die Zeiten sind vorbei, wo das galt. Weder zieht das Zarenthum heute den Haupttheil seiner Kraft aus der Theilung Polens, noch ist dessen Unabhängigkeit heute der Feind, der es im Innern am ärgsten bedroht.

Anfangs der sechziger Jahre konnte man noch eine Resolution gegen das Zarenthum fassen, in der blos von der Unabhängigkeit Polens die Rede war. Heute erschiene es uns als eine Unbilligkeit gegen die russische revolutionäre Be­wegung, wenn ein internationaler Kongreß, sobald er auf die Bekämpfung des Zarenthums zu sprechen kommt, blos von Polen spräche, und nicht die Befreiung Rußlands ebenso sehr für eine internationale Notwendigkeit erklärte, wie die Unabhängigkeit Polens.

Wir glauben, beide Momente ließen sich sehr gut nebeneinander betonen, und das würde der historischen Situation besser entsprechen, als die Resolution in ihrer jetzigen Fassung, die etwas antiquirt ist.

Aber das Entscheidende bei einer Resolution ist nicht ihre Motivirung sondern der Grundsatz, den sie ausspricht. Und dem Grundsatz der polnischen Resolution stimmen wir rückhaltlos zu.

1Siehe die „Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter–Assoziation, gegründet am 28. September 1864 in öffentlicher Versammlung in St. Martin's Hall, Long Acre, in London“ in diesem Archiv

2 [Anm. Kautsky:] Vergl. darüber den klassischen Artikel von Fr. Engels über "Die auswärtige Politik des russischen Zarenthums", "Neue Zeit", 8. Jahrg., S. 145ff (geschrieben Dezember 1889 bis Februar 1890 – Ergänzung mlwerke.de)

3 [Anm. Kautsky:] In der Türkei kam ihm neben der nationalen auch die religiöse Phrase zu Gute. Es trat dort nicht blos als der Befreier der slavischen Brüder, sondern auch als der Schützer der Christen vor den Mohamedanern auf. Auf die Griechen, Rumänen, Armenier konnte man eben mit dem slavischen Beruf Rußlands nicht wirken. Dieser wurde ergänzt durch seine religiöse Inbrunst.

4 Rosa Luxemburg: Neue Strömungen in der polnischen sozialistischen Bewegung in Deutschland und Österreich. In Die Neue Zeit, 14. Jahrgang 1895/96, 2. Band, S. 176-181 und 206-216. Rosa Luxemburg: Der Sozialpatriotismus in Polen. In Die Neue Zeit, 14. Jahrgang 1895/96, 2. Band, S. 459-470. Abgedruckt in „Rosa Luxemburg – Gesammelte Werke“, Dietz Verlag Berlin 1982, Band 1-1, S. 14-36 bzw. 37-51

5 In diesem Archiv: S.G.: "Die industrielle Politik Rußlands in dessen polnischen Provinzen" Ein weiterer Artikel desselben Autors erschien nach dieser Kontroverse im selben Jahrgang von "Die Neue Zeit" zum Thema "Die finanzielle Politik Rußlands in ihren polnischen Provinzen". Die Neue Zeit, 14. Jahrgang 1896, 2. Halbband, S. 556-561, den wir der Vollständigkeit halber ebenfalls in diesem Archiv zugänglich machen.

6 In diesem Archiv: S.G.: "Ein Beitrag zur Geschichte der Agrarpolitik Rußlands in dessen polnischen Provinzen"

7 Sweater: Ausbeuter, Inhaber eines „Sweatshops“, der eine geringe Zahl von Arbeitern unter schlechtesten Arbeitsbedingungen erbarmungslos ausbeutet.

8 ad oculos: augenfällig

9 Der "Internationale sozialistische Arbeiter- und Gewerkschaftskongreß" tagte vom 27. Juli bis 1. August 1896 in London. Er wird als der dritte Kongreß der Sozialistischen oder 2. Internationale gezählt.

10 Die Resolutionsentwürfe sind in den Artikel von S. Häcker und Rosa Luxemburg wiedergegeben. Sie die beiden folgenden Fußnoten:

11 In diesem Archiv: S. Häcker (Krakau): „Der Sozialismus in Polen“, in Die Neue Zeit, 14. Jahrgang 1895/96, 2. Band, S. 324ff

12 Siehe in unserem Archiv „Rosa Luxemburg: Der Sozialpatriotismus in Polen“,: