MLWerke | Vorwort | Inhalt | 2. Kapitel | Franz Mehring

Seitenzahlen nach: Franz Mehring - Gesammelte Schriften, Band 3. Berlin/DDR, 1960, S. 7-14.
1. Korrektur
Erstellt am 30.10.1999

Franz Mehring: Karl Marx - Geschichte seines Lebens

Erstes Kapitel: Junge Jahre


1. Haus und Schule

|7| Karl Heinrich Marx wurde am 5. Mai 1818 in Trier geboren. Über seine Abstammung ist wenig bekannt, dank der Verwirrung und Verwüstung, die die kriegerischen Zeitläufte um die Wende des Jahrhunderts in den rheinischen Standesregistern angerichtet haben. Wird doch heute noch um das Geburtsjahr Heinrich Heines gestritten!

Ganz so schlimm steht es nun freilich mit Karl Marx nicht, der in ruhigeren Zeiten geboren wurde. Aber als vor fünfzig Jahren eine Schwester seines Vaters gestorben war, mit Hinterlassung eines ungültigen Testaments, gelang es allen gerichtlichen Nachforschungen nach den Intestaterben doch nicht mehr, die Geburts- und Todestage ihrer Eltern festzustellen, also der Großeltern von Karl Marx. Der Großvater hieß Marx Levi, nannte sich später aber nur Marx und war Rabbiner in Trier; er soll 1798 gestorben sein und war 1810 jedenfalls nicht mehr am Leben. Seine Ehefrau Eva, geborene Moses, war 1810 noch am Leben und soll 1825 gestorben sein.

Von den zahlreichen Kindern dieses Paares widmeten sich zwei gelehrten Berufen: Samuel und Hirschel. Samuel wurde als Rabbiner in Trier der Nachfolger seines Vaters, während sein Sohn Moses als Rabbinatskandidat nach Gleiwitz in Schlesien verschlagen wurde. Samuel war 1781 geboren und starb 1829. Hirschel, der Vater von Karl Marx, war 1782 geboren. Er wandte sich der Jurisprudenz zu, wurde Advokatanwalt und später Justizrat in Trier, ließ sich 1824 als Heinrich Marx taufen und starb 1838. Er war mit Henriette Preßburg verheiratet, einer holländischen Jüdin, deren Ahnen nach Angabe ihrer Enkelin Eleanor Marx eine jahrhundertlange Reihe von Rabbinern aufweisen. Sie starb 1863. Beide hinterließen ebenfalls eine zahlreiche Familie, doch lebten zur Zeit jener Erbschaftsregulierung, deren Akten diese genealogischen Notizen verdankt sind, nur noch vier von ihren Kindern: Karl Marx und drei Töchter, Sophie als Witwe des Anwalts Schmalhausen in Maastricht, Emilie als Ehefrau des Ingenieurs Conrady in Trier und Luise als Ehefrau des Kaufmanns Juta in der Kapstadt.

Seinen Eltern, deren Ehe überaus glücklich war, verdankte Karl Marx, |8| nächst der Schwester Sophie ihr ältestes Kind, eine heitere und sorgenfreie Jugend. Wenn seine »herrlichen Naturgaben« in dem Vater die Hoffnung weckten, daß sie dereinst zum Wohle der Menschheit dienen würden, so hieß ihn die Mutter ein Glückskind, dem alles wohl unter den Händen gerate. Doch ist Karl Marx weder, wie Goethe, der Sohn seiner Mutter, noch, wie Lessing und Schiller, der Sohn seines Vaters gewesen. Die Mutter ging, bei all ihrer zärtlichen Sorge für ihren Gatten und ihre Kinder, ganz in dem Frieden des Hauses auf; sie hat all ihr Lebtag nur ein mangelhaftes Deutsch gesprochen und an den geistigen Kämpfen ihres Sohnes keinen Anteil genommen, es sei denn mit der mütterlichen Bekümmernis, was aus ihrem Karl wohl hätte werden können, wenn er den rechten Weg eingeschlagen hätte. In späteren Jahren scheint Karl Marx seinen mütterlichen Verwandten in Holland näher gestanden zu haben, namentlich einem »Onkel« Philips; er spricht von diesem »famosen alten Jungen«, der sich ihm auch in den Nöten des Lebens hilfreich erwies, wiederholt mit großer Sympathie.

Jedoch auch der Vater blickte manches Mal mit geheimer Angst auf den »Dämon« in dem Lieblingssohne, obgleich er schon wenige Tage nach Karls zwanzigstem Geburtstage starb. Nicht die kleinliche und peinliche Sorge des Hausmütterchens um das gedeihliche Fortkommen des Sohnes quälte ihn, sondern die dumpfe Ahnung von der granitenen Härte eines Charakters, die seinem weichen Wesen völlig fremd war. Jude, Rheinländer, Rechtsgelehrter, so daß er gegen alle Liebreize des ostelbischen Junkertums dreifach hätte gepanzert sein müssen, war Heinrich Marx doch preußischer Patriot, nicht in dem faden Sinne, den dies Wort heute hat, sondern preußischer Patriot etwa von dem Schlage, wie ihn die älteren von uns noch in den Waldeck und Ziegler gekannt haben: mit bürgerlicher Bildung gesättigt, in gutem Glauben an die altfritzige Aufklärung, ein »Ideologe«, wie sie Napoleon nicht ohne Grund haßte. Was dieser unter »dem tollen Ausdruck von Ideologie« verstand, schürte zumal den Haß des Vaters Marx gegen den Eroberer, der den rheinischen Juden die bürgerliche Gleichberechtigung und den rheinischen Landen den Code Napoléon geschenkt hatte, ihr eifersüchtig behütetes, aber von der altpreußischen Reaktion unablässig angefeindetes Kleinod.

Sein Glaube an den »Genius« der preußischen Monarchie ist auch nicht dadurch erschüttert worden, daß ihn die preußische Regierung gezwungen hätte, um seines Amtes willen seine Religion zu wechseln. Das ist wiederholt behauptet worden und auch von sonst unterrichteter Seite, anscheinend um zu rechtfertigen oder doch zu entschuldigen, was weder einer Rechtfertigung noch auch nur einer Entschuldigung bedarf. Selbst |9| vom rein religiösen Standpunkt hatte ein Mann, der mit Locke und Leibniz und Lessing seinen »reinen Glauben an Gott« bekannte, nichts mehr in der Synagoge zu suchen und fand noch am ehesten einen Unterschlupf in der preußischen Landeskirche, in der damals ein duldsamer Rationalismus herrschte, eine sogenannte Vernunftreligion, die selbst auf das preußische Zensuredikt von 1819 abgefärbt hatte.

Aber die Lossagung vom Judentum war unter den damaligen Zeitläuften nicht nur ein Akt religiöser, sondern auch - und vornehmlich - ein Akt sozialer Emanzipation. An der ruhmvollen Geistesarbeit unserer großen Denker und Dichter war das Judentum nicht beteiligt gewesen; das bescheidene Licht eines Moses Mendelssohn hatte seiner »Nation« vergebens den Weg in das deutsche Geistesleben zu erhellen gesucht. Und als just in den Jahren, wo Heinrich Marx zum Christentum übertrat, ein Kreis junger Juden in Berlin die Bestrebungen Mendelssohns wieder aufnahm, geschah es mit dem gleichen Mißerfolge, obgleich sich Männer wie Eduard Gans und Heinrich Heine unter ihnen befanden. Gans, der dies Schifflein steuerte, strich sogar zuerst die Flagge und ging zum Christentum über, und wenngleich Heine ihm zunächst einen derben Fluch nachsandte - »Gestern noch ein Held gewesen, Ist man heute schon ein Schurke« -, so war er doch bald darauf selbst gezwungen, den »Eintrittsschein zur europäischen Kultur« zu lösen. Beide haben ihren historischen Anteil an der deutschen Geistesarbeit des Jahrhunderts erworben, während die Namen ihrer Gefährten, die treuer als sie an der Kultivierung des Judentums arbeiteten, vergessen und verschollen sind.

So ist manches lange Jahrzehnt hindurch der Übertritt zum Christentum für die freien Köpfe des Judentums ein zivilisatorischer Fortschritt gewesen. Und nicht anders ist der Religionswechsel zu verstehen, den Heinrich Marx im Jahre 1824 mit seiner Familie vollzog. Möglich, daß auch äußere Umstände nicht die Tat selbst, aber den Zeitpunkt der Tat bestimmt haben. Die jüdische Güterschlächterei, die in der landwirtschaftlichen Krisis der zwanziger Jahre einen heftigen Aufschwung nahm, hatte einen ebenso heftigen Judenhaß auch in den Rheinlanden erregt, und diesen Haß mitzutragen hatte ein Mann von der unantastbaren Redlichkeit des alten Marx weder die Pflicht, noch auch nur - im Hinblick auf seine Kinder - das Recht. Oder der Tod seiner Mutter, der in diese Zeit gefallen sein muß, hat ihn von einer Rücksicht der Pietät befreit, die ganz seinem Charakter entsprochen hätte, oder es mag auch mitgesprochen haben, daß im Jahre des Übertritts sein ältester Sohn das schulpflichtige Alter erreicht hatte.

|10| Mag dem so oder anders sein, so besteht daran kein Zweifel, daß Heinrich Marx sich die freimenschliche Bildung erarbeitet hatte, die ihn von aller jüdischen Befangenheit befreite, und diese Freiheit hat er seinem Karl als wertvolles Erbe hinterlassen. Nichts in den immerhin zahlreichen Briefen, die er an den jungen Studenten gerichtet hat, verrät eine Spur von jüdischer Art oder Unart, sie sind in einem altväterischen, sentimental-weitläufigen Tone gehalten, im Briefstil noch des achtzehnten Jahrhunderts, wo der echte deutsche Mann schwärmte, wenn er liebte, und polterte, wenn er zürnte. Ohne jede spießbürgerliche Beschränktheit gehen sie willig auf die geistigen Interessen des Sohnes ein, nur mit entschiedener und durchaus berechtigter Abneigung gegen dessen Gelüste, sich als »gemeines Poetlein« aufzutun. Bei allem Schwelgen in den Gedanken an die Zukunft seines Karl kann sich freilich der alte Herr mit »seinen gebleichten Haaren und ein wenig gebeugtem Gemüt« doch nicht ganz des Gedankens entschlagen, ob das Herz dem Kopfe des Sohnes entspreche, ob es Raum für die irdischen, aber sanfteren Gefühle habe, die in diesem Jammertale den Menschen so wesentlich trostreich seien.

In seinem Sinne waren seine Zweifel wohl berechtigt; die echte Liebe, womit er den Sohn »im Innersten seines Herzens« trug, machte ihn nicht blind, sondern hellseherisch. Aber wie der Mensch niemals die letzten Folgen seines Tuns zu überblicken vermag, so hat Heinrich Marx nicht daran gedacht und nicht daran denken können, wie er durch das reiche Maß bürgerlicher Bildung, das er dem Söhne als kostbare Mitgift fürs Leben gab, doch nur den gefürchteten »Dämon« entbinden half, von dem er zweifelte, ob er »himmlischer« oder »faustischer« Natur sei. Wieviel hat Karl Marx im Elternhause schon spielend überwunden, was einem Heine oder einem Lassalle die ersten und schwersten Lebenskämpfe gekostet hat, Kämpfe, deren Wunden bei beiden niemals völlig verharscht sind!

Was die Schule dem heranwachsenden Knaben mitgegeben hat, läßt sich weniger klar erkennen. Karl Marx hat niemals von einem seiner Schulkameraden gesprochen, und so liegt auch von keinem dieser Kameraden eine Kunde über ihn vor. Früh genug hat er das Gymnasium seiner Vaterstadt durchlaufen; sein Abiturientenzeugnis ist vom 24. September [bei Mehring: 25. August] 1835 datiert. Es begleitet den hoffnungsvollen Jüngling in üblicher Weise mit seinen Segenswünschen, mit schablonenhaften Urteilen über die Leistungen in den einzelnen Fächern. Jedoch hebt es besonders hervor, daß Karl Marx häufig auch die schwierigeren Stellen der alten Klassiker zu übersetzen und zu erklären |11| gewußt habe, besonders solche, wo die Schwierigkeit nicht so sehr in der Eigentümlichkeit der Sprache, als in der Sache und dem Gedankenzusammenhange bestehe; sein lateinischer Aufsatz zeige in sachlicher Hinsicht Reichtum an Gedanken und tieferes Eindringen in den Gegenstand, sei aber häufig mit Ungehörigem überladen.

In der eigentlichen Prüfung wollte es mit der Religion nicht gehen, aber auch mit der Geschichte nicht. Im deutschen Aufsatze jedoch fand sich ein Gedanke, der den prüfenden Lehrern schon als »interessant« erschien und uns noch viel interessanter erscheinen muß. Als Thema war gestellt »Betrachtung eines Jünglings bei der Wahl eines Berufs«. Das Urteil lautete, die Arbeit empfehle sich durch Gedankenreichtum und gute planmäßige Anordnung, sonst verfalle der Verfasser auch hier in den ihm gewöhnlichen Fehler, ein übertriebenes Suchen nach einem seltenen, bilderreichen Ausdruck. Dann aber wird wörtlich der Satz hervorgehoben: »Wir können nicht immer den Stand ergreifen, zu dem wir uns berufen glauben; unsere Verhältnisse in der Gesellschaft haben einigermaßen schon begonnen, ehe wir sie zu bestimmen imstande sind.« So kündigte sich in dem Knaben das erste Wetterleuchten des Gedankens an, den allseitig zu entwickeln das unsterbliche Verdienst des Mannes werden sollte.

2. Jenny von Westphalen

Im Herbste 1833 bezog Karl Marx die Universität Bonn, wo er ein Jahr lang vielleicht weniger Rechtswissenschaft studiert, als sich »Studierens halber« aufgehalten hat.

Unmittelbare Kunde liegt auch über diese Zeit nicht vor, aber so wie sie sich in den Briefen des Vaters spiegelt, scheint sich das junge Blut ein wenig ausgeschäumt zu haben. Von einem »wilden Toben« schrieb der Alte erst später in einer sehr ärgerlichen Stunde; zur Zeit klagte er nur über die »Rechnungen à la Karl, ohne Zusammenhang, ohne Resultat«, und mit diesen Rechnungen hat es auch später bei dem klassischen Theoretiker des Geldes nie recht stimmen wollen.

Nach dem lustigen Jahre in Bonn sah es vollends einem studentischen Geniestreiche gleich, als sich Karl Marx, in dem gesegneten Alter von achtzehn Jahren, mit einer Gespielin seiner Kinderjahre verlobte, einer vertrauten Freundin seiner älteren Schwester Sophie, die dem Bunde der jungen Merzen die Wege ebnen half. In der Tat aber war es der erste und schönste Sieg, den dieser geborene Herrscher über Menschen |12| davontrug; ein Sieg, der dem eigenen Vater ganz »unbegreiflich« erschien, bis er ihm erklärlicher wurde durch die Entdeckung, daß die Braut auch »etwas Genialisches« hätte und Opfer zu bringen verstünde, deren gewöhnliche Mädchen nicht fähig wären.

Wirklich war Jenny von Westphalen ein Mädchen nicht nur von ungewöhnlicher Schönheit, sondern auch von ungewöhnlichem Geist und ungewöhnlichem Charakter. Vier Jahre älter als Karl Marx, stand sie doch erst im Anfange der zwanziger Jahre; im vollen Schmelz ihre jungen Schönheit war sie viel gefeiert und viel umworben, und als die Tochter eines hochgestellten Beamten einer glänzenden Zukunft sicher. Alle diese Aussichten opferte sie, wie der alte Marx meinte, einer »gefahrvollen und unsicheren Zukunft«, und er glaubte mitunter auch an ihr die ahnungsschwere Furcht zu beobachten, die ihn beunruhigte. Aber er war des »Engelsmädchens«, der »Zauberin« so sicher, daß er den Sohne zuschwor, kein Fürst werde sie ihm abwenden.

Die Zukunft gestaltete sich viel gefahrvoller und unsicherer, als Heinrich Marx in seinen bängsten Träumen vorhergesehen hatte, jedoch Jenny von Westphalen, deren Jugendbildnis von kindlicher Anmut strahlt, hat mit dem unbeugsamen Mut einer Heldin zu dem Mann ihrer Wahl gehalten, mitten in den furchtbarsten Leiden und Qualen. Nicht vielleicht im hausbackenen Sinne des Wortes hat sie ihm die schwere Last seines Lebens erleichtert, denn, ein verwöhntes Kind des Glückes, war sie den kleinen Miseren des täglichen Lebens nicht immer so gewachsen, wie es eine wetterfeste Proletarierin gewesen sein würde, aber in dem hohen Sinne, womit sie das Werk seines Lebens erfaßte, ist sie ihm eine ebenbürtige Gefährtin geworden. In allen ihren Briefen soviel ihrer erhalten sind, weht ein Hauch echter Weiblichkeit; sie war eine Natur im Sinne Goethes, gleich wahr in jeder Stimmung ihres Gemüts, in dem entzückenden Plauderton heiterer Tage wie in dem tragischen Schmerz der Niobe, der das Elend ein Kind entriß, ohne daß sie ihm auch nur ein bescheidenes Grab betten konnte. Ihre Schönheit war der Stolz ihres Mannes, und als ihre Geschicke nahezu schon ein Menschenalter verkettet waren, schrieb er ihr 1863 aus Trier, wo er zum Begräbnis seiner Mutter weilte: »Ich bin täglich zum alten Westphalenhause gewallfahrtet (in der Römerstraße), das mich mehr interessiert hat als alle römischen Altertümer, weil es mich an die glückliche Jugendzeit erinnert und meinen besten Schatz barg. Außerdem fragt man mich täglich, links und rechts, nach dem quondam ›schönsten Mädchen von Trier‹ und der ›Ballkönigin‹. Es ist verdammt angenehm für einen Mann, wenn seine Frau in der Phantasie einer ganzen Stadt so als ›verwunschene |13|* Prinzessin‹ fortlebt.« So auch hat der sterbende Mann, wie fremd ihm immer alle Sentimentalität geblieben ist, in wehmütig erschütterndem Ton von dem schönsten Teil seines Lebens gesprochen, der ihm in dieser Frau beschlossen gewesen sei.

Die jungen Leute verlobten sich zunächst, ohne die Eltern der Braut zu fragen, was seinem gewissenhaften Vater nicht geringe Bedenken erregte. Aber nicht lange danach gaben auch sie ihre Zustimmung. Der Geheime Regierungsrat Ludwig von Westphalen gehörte trotz seines Namens und Titels weder zum ostelbischen Junkertum noch zur altpreußischen Bürokratie. Sein Vater war jener Philipp Westphalen, der zu den merkwürdigsten Gestalten der Kriegsgeschichte zählt. Bürgerlicher Geheimsekretär des Herzogs Ferdinand von Braunschweig, der im siebenjährigen Kriege an der Spitze eines bunt zusammengewürfelten, von englischem Gelde besoldeten Heeres das westliche Deutschland erfolgreich vor den Eroberungsgelüsten Ludwigs XV. und seiner Pompadour schützte, hatte sich Philipp Westphalen zum tatsächlichen Generalstabschef des Herzogs zu machen verstanden, allen deutschen und englischen Generalen des Heeres zum Trotz. Seine Verdienste waren so anerkannt, daß ihn der König von England zum Generaladjutanten von der Armee ernennen wollte, was Philipp Westphalen jedoch ablehnte. Nur soweit mußte er seinen bürgerlichen Sinn zähmen, daß er den Adel »genehmigte«: aus ähnlichen Gründen, wie sich ein Herder oder Schiller zu dieser Erniedrigung bequemen mußte: um die Tochter einer schottischen Baronsfamilie heiraten zu können, die im Feldlager des Herzogs Ferdinand erschienen war, zum Besuch ihrer mit einem General der englischen Hilfstruppen vermählten Schwester.

Ein Sohn dieses Paares war Ludwig von Westphalen. Hatte er von seinem Vater einen historischen Namen geerbt, so reichte auch die Ahnenreihe der Mutter zu großen historischen Erinnerungen herauf; einer ihrer Vorfahren in gerade aufsteigender Linie hatte im Kampfe für die Einführung der Reformation in Schottland den Scheiterhaufen bestiegen, ein anderer, der Earl Archibald Argyle, war als Rebeller im Freiheitskampfe gegen Jakob II. auf dem Marktplatze in Edinburgh enthauptet worden. Mit solchen Familienüberlieferungen entwuchs Ludwig von Westphalen von vornherein den Dunstkreisen des bettelstolzen Junkertums und der dünkelhaften Bürokratie. Ursprünglich in braunschweigischen Diensten, hatte er sich nicht bedacht, diese Dienste fortzusetzen, als das kleine Herzogtum von Napoleon zum Königreich Westfalen geschlagen worden war, da ihm offenbar weniger an dem angestammten Welfen lag als an den Reformen, mit denen die französische |14| Eroberung die verrotteten Zustände seines Heimatländchens heilte. Der Fremdherrschaft selbst blieb er deshalb nicht weniger abgeneigt und hatte im Jahre 1813 die harte Hand des Marschalls Davoust zu spüren. Vor Landrat in Salzwedel, wo ihm seine Tochter Jenny am 12. Februar 1814 geboren wurde, war er dann zwei Jahre später als Rat an die Regierung in Trier versetzt worden; im ersten Eifer besaß der preußische Staatskanzler Hardenberg noch die Erkenntnis, daß die tüchtigsten, von junkerlichen Schrullen freiesten Köpfe in die neugewonnenen Rheinland geworfen werden müßten, die mit ihrem Herzen immer noch an Frankreich hingen.

Karl Marx hat Zeit seines Lebens von diesem Manne mit größter Anhänglichkeit und Dankbarkeit gesprochen. Nicht nur als sein Schwiegersohn, hat er ihn seinen »teuren, väterlichen Freund« genannt und ihn seiner »kindlichen Liebe« versichert. Westphalen konnte ganze Gesänge Homers vom Anfang bis zum Ende hersagen; er kannte die meisten Dramen Shakespeares englisch wie deutsch auswendig; aus dem »alten Westphalenhause« holte sich Karl Marx viele Anregungen, die ihm das eigne Haus nicht bieten konnte und noch viel weniger die Schule. Er selbst ist schon von früh auf ein Liebling Westphalens gewesen, der seine Einwilligung in die Verlobung auch in der Erinnerung an die glücklich Ehe der eignen Eltern gegeben haben mag; im Sinne der Welt hatte die Tochter der altadeligen Baronsfamilie ebenfalls eine schlechte Partie gemacht, als sie sich mit dem armen bürgerlichen Geheimsekretär verband.

In dem ältesten Sohne Ludwig von Westphalens ist die Gesinnung des Vaters nicht lebendig geblieben. Er war ein bürokratischer Streber und schlimmeres als das; in der Reaktionszeit der fünfziger Jahre hat er als preußischer Minister des Innern die feudalen Ansprüche des verstocktesten Zaunjunkertums sogar gegen den Ministerpräsidenten Manteuffel vertreten, der immerhin ein gewitzter Bürokrat war. Mit seiner Schwester Jenny hat dieser Ferdinand von Westphalen in keinen engeren Beziehungen gestanden, zumal da er fünfzehn Jahre älter als sie und auch nur, als Sohn aus einer ersten Ehe des Vaters, ihr Halbbruder war.

Ihr echter Bruder war dagegen Edgar von Westphalen, der nach links von den Pfaden des Vaters abwich wie Ferdinand nach rechts. Er ha gelegentlich die kommunistischen Kundgebungen seines Schwagers Marx mitunterzeichnet. Ein steter Gefährte ist er ihm freilich nicht geworden; er ging über das große Wasser, hatte dort wechselnde Schicksale, kehrte zurück, tauchte bald hier, bald dort auf, ein rechter Wildling, wo man von ihm hört. Aber ein treues Herz hat er immer für Jenny und Karl Marx gehabt, und sie haben ihren ersten Sohn nach ihm genannt.


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